Deutsch-Amerikanischer Almanach

Nina Gartz
Indianer und Alkoholmißbrauch

B.Der betrunkene Indianer in der weißen Literatur und im weißen Film

Allerdings stellten die Kirche und ausländische Beobachter nicht die einzigen Legitimationsquellen dar. Auch die heimische Literatur und später der Film boten Verteidigungsstrategien gegen Vorwürfe des Genozids und der Zwangsumsiedlung. "A fiction that shows Indian communities in dysfunctional disarray, fragmented and turned inward in a frenzy of alcoholism and mutual self-destruction is both entertaining and comfortable", so erklärt Louis Owens den Beliebtheitsgrad des Stereotyps vom "drunken Indian" (77), das von beiden Medien Jahrzehnte und Jahrhunderte lang propagiert wurde, von der ersten Captivity Narrative bis hin zu den Western der Gegenwart, von der "Indian hater fiction" bis hin zu den romances.99 Als eine Variante des Binärsystems "edler Wilder"-"blutrünstiger Barbar" (siehe Bataille & Silet xxii) zeichnete es den Indianer mal als zu bemitleidende, aber liebenswerte, mal als verachtenswerte und lächerliche, aber harmlose, mal als bedrohliche, weil durch Alkohol bestechliche Kreatur. Die ersten zwei Typen bettelten um Alkohol, der letzte Typus nahm ihn sich mit Gewalt. Immer aber war der "drunken Indian" faul, unzuverlässig, selbstzerstörerisch und ungepflegt, lungerte in der Nähe weißer Siedlungen herum und bot so einen vollkommenen Kontrast zum strahlenden weißen Helden, mit dem er auf die eine oder andere Weise interagierte. Die Erweiterung "dumb and drunken Indian" implizierte darüber hinaus ein niedrigeres Intelligenzniveau (Lutz 239). Auch die Klischees von gewaltsamen und sexuell freizügigen Trinkgelagen wurden bedient. Den Literatur- und Hollywood-Indianern wurde - abgesehen vom kontinuierlichen Verfall - jegliches Entwicklungspotential abgesprochen, was die Herausbildung des Stereotyps überhaupt erst ermöglichte (siehe Hermann 88). Darüber hinaus erschienen sie als eine homogene Masse aus ausschließlich Prärieindianern, die dasselbe Pidgin sprachen und die in einem "time-warp" von etwas über 50 Jahren (1825-1880) ihr Dasein fristeten (siehe Churchill 232ff / Kilpatrick 8f). Nur einzelne Indianer, oft die letzten ihres Stammes, wurden aus der anonymen Horde herausgehoben. Ansonsten hieß das Motto: "Seen One Indian, Seen'em All" (Churchill 236).

Oft wird behauptet, jedes Stereotyp trüge ein Körnchen Wahrheit in sich (siehe Georgi 9 / Lutz 190f / Baker 194 / Levy & Kunitz 2 / Debo 43). Dies entspricht auch im Falle des "drunken Indian"-Stereotyps den Tatsachen, wie die vorangegangen Ausführungen zeigen. Aber im Zuge der selektiven Wiedergabe und Rezeption wurden einzelne Wesensmerkmale karikaturenhaft überzeichnet. Andere Wesensmerkmale erhielten keinen Raum im Buch, keine Sendezeit im Film. Fiktionale Beschreibungen wurden von Lesern und Zuschauern, denen sich keine Alternativen boten, Informationen einzuholen, oft eins zu eins in die Wirklichkeit übersetzt. Diese Desinformation führte dann zur Stigmatisierung einer gesamten Bevölkerungsgruppe, zur Annahme des unvermeidbaren Untergangs und zur gewissenlosen Extermination und Zwangsumsiedlung (siehe Kilpatrick xv / 18).

1.Der betrunkene Indianer als bemitleidenswerte Figur

a.Gescheiterte Akkulturationsexperimente

Seit James Fenimore Cooper, so schreibt Lutz, sei der korrumpierende Einfluß des Alkohols auf "Rothäute" ein Topos der Indianerliteratur (siehe Seite 155). Chingachgook ist der letzte Mohikaner des gleichnamigen Romans aus der Leatherstocking Reihe des am meisten gelesenen amerikanischen Romanautors (siehe Howard v). Während er in The Last of the Mohicans (1826) noch der edle Wilde Great Snake an der Seite des weißen Helden Natty Bumppo war, verkommt er in The Pioneers (1823) zum degenerierten Indianer John Mohegan.100 "Old John and Chingachgook were very different men to look on", bescheinigt auch Bumppo (150f).101 Der oberflächlich zivilisierte und christianisierte letzte Repräsentant seiner Sippe vegetiert am Rande des Städtchens Templeton vor sich hin, ohne jedoch von der weißen Gemeinde, die seinen Verfall kommentiert und ihn abwechselnd bemitleidet und belächelt, vollständig akzeptiert zu werden.102 Seine einzige Bezugsperson ist Bumppo, "the white man who 'out-Indians the Indian'" (Kilpatrick 75), der Mann, der seinen indianischen Namen Hawkeye mehr verdient als Chingachgook den seinen, der die Sprache der Mohikaner fließend beherrscht und sich für die Rechte der Indianer einsetzt. Wiederholt kritisiert er Chingachgook für die Apathie, mit der dieser sein Schicksal und das seiner Rasse hinnimmt. Aber Chingachgook, dessen Hände wohl aufgrund einer Kombination aus Alkohol und hohem Alter zittern und sich nicht einmal mehr zum Körbeflechten eignen, kann keinen Gebrauch mehr von seiner Waffe machen. Der Tomahawk entgleitet ihm (162). Gelegentlich, wie zum Beispiel am Weihnachtsabend, lösen ihn die im Rausch aufkommenden Erinnerungen an seine glorreichen Zeiten als tapferer Krieger aus der tristen Gegenwart heraus. Die anwesenden Weißen sorgen unaufhörlich für alkoholischen Nachschub, spornen den Indianer mit "Here, John; drink, man, drink" an, wohl um sich ihre eigene überlegene Selbstdisziplin zu demonstrieren und das Stereotyp vom "drunken Indian" bestätigt zu sehen (160). "This is the way with all the savages; give them liquor, and they make dogs of themselves", so lautet ihr anschließendes Fazit (163). Seinen Verfall lastet der Indianer dann auch direkt dem Alkohol und indirekt den Weißen an: "[T]he white man brings old age with him--rum is his tomahawk!" Auf die Gegenfrage des jungen Protagonisten Oliver Edwards, warum er denn nicht widerstehen könne und sich selbst durch das Trinken zur Bestie mache, antwortet der Indianer ausweichend metaphorisch: "They [my fathers] fled before rum [...] But warriors and traders with light eyes followed them [...] one brought rum [...] The evil spirit was in their jugs, and they let him loose" (182f). Offensichtlich aber schämt sich Chingachgook seiner Degeneration. Er trägt das Haar so, daß es einen undurchdringbaren Schleier vor seinem Gesicht bildet. Einzig in der ausgedehnten Sterbeszene (414-440), die von einem Selbstmordritual eingeleitet wird, kann der Indianer sein Gesicht zeigen. Er streift Christianisierung und Zivilisierung mit all ihren Lastern ab, und wird im Augenblick des Todes wieder ganz zum würdevollen Wilden, der seinen Vorfahren singend in die heidnischen Jagdgründe folgt. "[H]e can still die an Indian" (Hermann 142ff). Der Tod wird zum Höhepunkt der indianischen Existenz. Ein Überleben, so suggeriert der Text, ist nicht möglich; der nicht akkulturierbare Indianer, der bereits erzähltechnisch marginalisiert ist, muß den Weg für den Fortschritt räumen. Bumppo wird zum "representative mourner" (Scheckel 31) hinsichtlich des Untergangs der indianischen Rasse, "the seemingly inevitable fate of all these people, who disappear before the advances [...] of civilization" (Cooper, The Last of the Mohicans vii).

Während Chingachgook weder den wilden Great Snake noch den zivilisierten John Mohegan wirklich verkörpert, also "none of God's creaters [...] neither white-man, nor savage" ist (472), stellt die Titelfigur in Wyandotté or The Hutted Knoll (1841) beides zugleich dar. Sie leidet offensichtlich unter einer Persönlichkeitsspaltung, die mal den assimilierten und von seinem Stamm aufgrund seiner Trunksucht verstoßenen Armeescout Nick, mal den wilden Krieger Wyandotté zum Vorschein kommen läßt. Seine Kriegsbemalung belegt diese Schizophrenie recht plastisch: Eine Gesichtshälfte ist schwarz, die andere rot unterlegt. Die Augen umgeben jeweils weiße Kreise. Im Laufe mehrere Trinkorgien jedoch verwischen die Farbgrenzen zusehends (40). So wie man zwischen den in einander übergehenden Farben nicht mehr exakt differenzieren kann, so können auch der Indianer selbst und die ihn umgebenden Weißen seine zwei personae nicht mit Gewißheit auseinanderdividieren. Als Saucy Nick dient der Tuscarora der Familie Willoughby unterwürfig, erliegt lediglich von Zeit zu Zeit seinen "ungovernable passions" (36) und feilscht um Santa Cruz, seinen Lieblingsrum, den er sich dann mit seinem Zechkumpan, dem Iren Mike O'Hearn brüderlich teilt.103 Als Wyandotté aber ist er ein stolzer und unabhängiger Krieger, der sich in die Wälder zurückzieht und den Alkohol und damit sein alter ego Nick verachtet: "Nick always dry; Wyandotté know no thirst. Nick beggar; ask for rum - pray for rum - t'ink of rum - talk of rum - laugh for rum - cry for rum. Wyandotté don't know rum when he see him. Wyandotté beg not'in; no, not his scalp", bekräftigt er in seinem gebrochenen Englisch (304). Die Frauen der Willoughby Familie sind dazu geneigt, der degenerierten, aber liebenswerten Seite ("gentle" und "soft") des Indianers Glauben zu schenken, während die Männer in der wilden, bedrohlichen Seite ("fierce") den dominanteren Zug sehen. Letztere stellen seine Loyalität trotz zahlreicher Treuebeweise wiederholt in Frage. Grund für dieses Mißtrauen ist die eigene "Großzügigkeit": "No man is thankful for rum when the craving is off, sin' he knows he has been taking an inimy into his stomach [...] A man will seek revenge for rum as soon as for anything else", so lautet ihre Befürchtung (313). Um das Temperament des Indianers zu zügeln, legen sie ihre Finger auf offene Wunden, indem sie den Indianer an in der Vergangenheit erhaltene Strafen erinnern, die Nick demütig hinnahm, die Wyandotté aber als so entehrend empfand, daß sie immer noch von Zeit zu Zeit an ihm nagen. Schließlich gewinnt das Wesen Wyandottés die Oberhand und tötet den Familienpatriarchen: "Wyandotté come - Nick gone away altogether. Nebber see Sassy Nick, ag'in" (421). Er läßt indianisches Recht statt weißem Recht walten: "He never forgot a favor, or forgave an injury" (464). Gegen Ende des Romans streift der Tuscarora noch eine andere Identität über: die des christianisierten Nicholas, der nach einer Beichte die Absolution erhält und auf dem Grab seines Mordopfers tot zusammenbricht.

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