Deutsch-Amerikanischer Almanach

Nina Gartz
Indianer und Alkoholmißbrauch

3.Westliche Methoden: Erfolg oder Mißerfolg?

Westliche Interventionsstrategien, die ursprünglich von Weißen für Weiße konzipiert wurden, gehen davon aus, daß es sich beim indianischen Trinkverhalten um ein pathologisches Phänomen handelt. Unterstellt wird ein psychologisches Problem, eine mentale oder emotionale Störung, die jedoch so nicht in jedem Fall vorliegen muß. Dieses "disease label" hat negative Folgen: Zum einen werden die Gesundheitseinrichtungen unnötig überlastet, zum anderen wird die Effektivität der Interventionsmaßnahmen in Frage gestellt. Darüber hinaus kann die Annahme einer Krankheit indianische Alkoholkonsumenten dazu ermutigen, sich in der Rolle des passiven Opfers zu sehen, das keinen Einfluß auf seine Genesung hat und somit keine Initiative ergreifen muß (siehe Mail & MacDonald 20 / Levy & Kunitz 24 / 192ff / Barr 27 / Beauvais 254f).

Die westlichen Methoden reihen sich also in den Bereich der Biomedizin und der Psychiatrie ein. Man setzt Einzel- und Gruppentherapien, Gesprächs- und Beschäftigungstherapien sowie Entgiftungs- und Pharmakotherapien ein. Zwei Behandlungsmöglichkeiten finden in der Literatur besondere Erwähnung: Die Anonymen Alkoholiker (AA) und Disulfiram. Steinbring beschreibt in seinem Aufsatz "Alcoholics Anonymous. Cultural Reform Among the Saulteaux" den Einsatz von AA bei Indianern in Manitoba. Obwohl andere Autoren den Anonymen Alkoholikern im Zusammenhang mit Indianern die Erfolgschancen absprechen, scheint AA unter Steinbrings Studienobjekten gefruchtet zu haben. Indianer verwiesen sogar mit Stolz auf ihre Mitgliedschaft: "I am AA". Steinbring führt den hohen Beliebtheitsgrad auf die Nähe der Selbsthilfeorganisation zu traditionell indianischen Einrichtungen wie der Grand Medicine Society zurück. Andere Autoren pflichten bei, daß in modifiziertem Gewand AA auch unter Indianern zu positiven Ergebnissen führen kann. Allerdings sind diese "Amerind-AA" bis zur Unkenntlichkeit entstellt (siehe Leland 95 / Griffith 58 / Mail & MacDonald 18 / Baker 202). AA im konventionellen Sinne werden keine Erfolgsaussichten eingeräumt. Der Beichtcharakter der Gruppengespräche sowie die christlichen Anleihen, so heißt es, wirkten abschreckend auf die Indianer (siehe Dorris 93f / Hamer & Steinbring 311 / Lamarine 152 / Mail & MacDonald 18 / Baker 202).

Auch Disulfiram, oder Antabuse, wird eine geringe Wirkung prophezeit. Es handelt sich dabei um eine Droge in Tablettenform, die den Abbau von Alkohol im Körper unterbricht, indem sie eines der am Metabolismus beteiligten Enzyme blockiert. Dadurch sammeln sich, wenn der Patient Alkohol konsumiert, Gifte im Blut an, die Erröten, Tränenbildung und Übelkeit bis hin zum Schockzustand hervorrufen können. Levy und Kunitz jedoch geben zu bedenken, daß die meisten Patienten eher die Einnahme von Disulfiram einstellten als den Konsum von Alkohol. Einen positiven Aspekt kann man der Droge jedoch abgewinnen: Sie hilft Indianern, dem immensen peer pressure zu entgehen, denn die meisten Indianer haben Verständnis für die Abstinenz von Individuen, die "on the pill" sind, und setzen sie nicht weiter unter Druck (siehe May, "Prevention Programs" 190ff / Levy & Kunitz 90 / Mail & MacDonald 19 / Baker 202).

4.Indianische Methoden: Erfolg oder Mißerfolg?

Das Gesamturteil für rein westliche Methoden fällt trotz der Teilerfolge von AA und Disulfiram vernichtend aus (siehe Baker 200f / Mail & MacDonald 18 / Lamarine 151f / Westermeyer 115). Es ist nachvollziehbar, daß in der Behandlung von Alkoholproblemen der kulturellen Einzigartigkeit der indianischen Bevölkerung Rechnung getragen werden muß. Es gilt das Prinzip der kulturellen Relativität (siehe Marshall 1 / Albaugh & Anderson 1247ff / Baker 202 / Stratton 45f). Aus diesem Grund ist man seit nicht allzu langer Zeit93 dazu übergegangen, traditionell indianische Zeremonien und Rituale in die Interventionsmaßnahmen miteinzubeziehen. Neben der kulturellen Relativität spielt aber auch der im Zusammenhang mit der Eskapismus-Theorie erwähnte Akkulturations- und Dekulturationsstreß eine Rolle (siehe Lamarine 151 / Beauvais 256f). May sieht das im Zuge der "Zivilisierung" verlorene Selbstwertgefühl der Indianer als Schlüsselfaktor (siehe "Prevention Programs" 192; siehe auch Lamarine 153). Von einer Wiederbelebung traditioneller Praktiken erhofft man sich also eine Steigerung des Selbstwertgefühls, welche die Flucht in den Alkohol überflüssig macht. Folgendes Zitat von Dino Butler, dem einstigen Bodyguard von AIM Anführer Dennis Banks, läßt eine Anerkennung beider Prinzipien vermuten:

By the time I got out of [prison], I'd lost whatever spiritual instinct I had had from my grandmother, and I couldn't really relate to anything except drinking [...] And it was at Green Grass [South Dakota ceremony for the Wounded Knee defendants] that I had my first sweat-lodge experience and smoked the pipe, and heard those brothers' prayers that everybody there would purify themselves of all those white-man poisons, and it was right then that I gave up drinking for good. I'd been looking for a direction like that all my life - I felt kind of reborn. (zitiert in Matthiessen 137f)94

Während die westlichen Methoden einen medizinischen Schwerpunkt haben, liegt das Hauptaugenmerk indianischer Praktiken auf spirituellen Erfahrungen, die sich sehr zum Leidwesen orthodoxer Mediziner nicht messen und kategorisieren lassen (siehe Beauvais 256f).95 Zu den transzendentalen Erfahrungen gehören Schwitz- und Rauchzeremonien, Tänze, Gesänge, indianisches Handwerk, Jagd, Fischen, Fastenrituale und Naturheilkunde. Die Kritik für rein indianische Methoden fällt bereits viel wohlwollender aus als die für rein westliche. Allerdings gibt Westermeyer zu bedenken, daß auch traditionelle Praktiken kein "across-the-board panacea for all the difficulties faced by Indian people" sind (112). "[I]t appears unlikely that cultural infusion will serve as a drug prevention strategy in all subgroups", so bestätigen Streit und Nicolich Westermeyers Position (122).

5.Eine Synthese von westlichen und indianischen Methoden

Anscheinend bedarf es einer Art Kombination beider Ansätze. Die Befürwortung der Synthese beruht auf der Annahme der sogenannten stake theory. Diese von Honigmann begründete und von Ferguson in seinem Aufsatz "Stake Theory as an Explanatory Device in Navajo Alcoholism Treatment Response" (1976) verfeinerte Theorie besagt, daß die Wahrscheinlichkeit devianten Verhaltens (z.B. exzessiver Alkoholkonsum) um so geringer ist, je mehr für einen auf dem Spiel steht. Hat man ein Haus, einen Beruf zu verlieren, hat man also eine Investition in die Gesellschaft getätigt, wird man sich davor hüten, diese Investitionen aufs Spiel zu setzen. Stammt man aus einer ethnischen Minorität wie der der Indianer, zeigt man am wahrscheinlichsten von der Norm abweichendes Verhalten, wenn man weder in der traditionellen Minderheiten- noch in der modernen Mainstream-Gesellschaft verankert ist. Hat man zumindest in einer der beiden Gesellschaften ein Standbein, sehen die Chancen für ein geregeltes Leben schon weitaus besser aus. Ist man jedoch integraler Bestandteil beider Gesellschaften, ist exzessiver Alkoholkonsum am unwahrscheinlichsten (siehe Mail & MacDonald 31 / Hamer & Steinbring 308ff / Lamarine 149 / May, "Prevention Programs" 189 / 193). Diesen letztgenannten Zustand der "bicultural competence" will man durch eine Durchmischung der Behandlungsmethoden erreichen (siehe Griffith 56ff / May, "Prevention Programs" 190ff / Hamer & Steinbring 311 / Nagel 201).

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