Deutsch-Amerikanischer Almanach

Nina Gartz
Indianer und Alkoholmißbrauch

D.Gründe und Motivationen

Seit dem zweiten Weltkrieg beschäftigen sich Forscher mit den Ursachen des vermeintlich hohen Alkoholkonsums der indianischen Mitbürger. Es gibt eine verwirrende Vielfalt von Ansätzen.24 Physiologische, historische, soziale und kulturelle Faktoren werden als Erklärungsmodelle angeführt. Dabei werden oft die negativen Aspekte (dysfunctions) des Alkoholkonsums in den Vordergrund gestellt. Daß Alkoholkonsum auch positive Konsequenzen (eufunctions) haben kann, wird meist vernachlässigt. Diese Tatsache liegt an der bereits in der Einleitung besprochenen Unfähigkeit der Wissenschaftler, den eigenen kulturellen Kontext vollständig zu ignorieren (siehe Honigmann, "Cultural Context" 35). So steht der Alkoholkonsum zum Beispiel im Einklang mit vielen alten Traditionen der Indianer. Das Teilen und die absolute Vertilgung von Speisen und Getränken wurden bereits erwähnt. Teilweise füllt Alkohol aber auch das Vakuum, das durch den Verlust alter Traditionen entstanden ist. Edwin Lemert etwa erwähnt in seiner Studie über Indianer der Nordwestküste das Erzählen von Mythen und das Singen von Liedern, die mit dem Trinken einhergehen (siehe Seite 61). Somit ist Alkohol fest in den Lebensrhythmus der Indianer integriert. "[The] drinking behavior [...] is not as socially and psychologically disruptive and damaging as casual observers [...] have concluded", stellt John Matthiasson im Zusammenhang mit den Inuit fest, und Eileen Maynard und Gayla Twiss sprechen von einem "alcohol adjustment syndrome" und "coping device" (Matthiasson 86 / Maynard & Twiss 165). Fest steht auch, daß ein Erklärungsmodell alleine nicht ausreicht, um dem komplexen Trinkverhalten der Indianer Rechnung zu tragen:

Indians drink for many reasons--to confirm friendship, have fun, avoid boredom, spite the white man, escape feelings of helplessness and hopelessness, relieve anxiety, release aggression, and lighten pressures from acculturation. Any one individual may drink for one or more reasons, and the reasons may vary according to the occasion and the place. (Baker 199)

Eine Synthese aus allen oder zumindest mehreren Ansätzen scheint angebracht.

1.Geschichtstheorie und Ursprungsmythos

"This liquor was entirely unknown to them before the Europeans came hither", behauptete der schwedische Ökonom Kalm von den Indianern (zitiert in Barr 202). Falls er damit destillierte Spirituosen meinte, kann man ihm aus heutiger Sicht wahrscheinlich beistimmen, obwohl auch in diesem Punkt noch Uneinigkeit herrscht (siehe Vogel, Medicine 170). Wahrscheinlicher aber ist, daß Kalm den Indianern sowohl die von den Europäern unabhängige Entdeckung des Gärungs- als auch des Destillationsprozesses absprach, wie so viele seiner Zeitgenossen es taten. "People who are anxious to prove that the Indian invented nothing make much todo of possible shipwrecks on the coast, the idea being that one or two white men would revolutionize the life of the Indians" (Wissler 299f).25 Es ist jedoch kaum vorstellbar, daß die Indianer nicht zumindest das Gärungsprinzip, das ja ein natürlicher Vorgang ist, erkannt hatten. Per Gärung läßt sich aus Obst Wein gewinnen. Die Herstellung von Bier gestaltet sich schon ein wenig schwerer, da vor dem Gärungsprozeß noch ein Enzym eingesetzt werden muß, das Stärke in Zucker umwandelt. Durch Destillieren (ein nicht natürlicher Prozeß) wird aus Wein und Bier hochprozentiger Branntwein (z.B. Brandy, Whiskey, Rum, Gin und Wodka) (siehe Horton 208ff). Es ist anzunehmen, daß dieses "Feuerwasser", das so alkoholhaltig war, daß es sich entzündete, sobald man es in Kontakt mit einem brennenden Streichholz oder einer anderen Feuerquelle brachte, doch seinen Ursprung in der Alten Welt hatte (siehe Adams, Western Words 59 / Partridge 394).26

Das Wissen um den Gärungsvorgang breitete sich jedoch schon vor dem Eintreffen von Kolumbus, Cortés und anderen wohl über Süd- und Mittelamerika und über die Azteken im heutigen Mexiko nach Norden bis hin zum Rio Grande aus. Huichol, Maricopa, Tarahumara, Cahita, Apache, Pima, Papago, Yuma, Zuni und weitere Stämme des Südwestens der heutigen USA waren mit Alkohol vertraut. Auch der Südosten und die Karibik kannten alkoholhaltige Getränke. Laut Harold Driver stellten die Indianer wenigstens 40 verschiedene ethanolhaltige Getränke her (siehe Seite 110; siehe auch Weatherford 212 / Waldman 61). Als Grundlage dienten unterschiedliche Früchte, Gemüsesorten, Wurzeln, Baumrinden, Getreide, Harz, Honig und vieles mehr. Einige Wissenschaftler sehen einen Zusammenhang zwischen dem Organisationstypus der Indianerstämme und dem Vertrautheitsgrad mit Alkohol. Ein hoher Grad an Organisation mit einem zumindest rudimentären Ackerbau sowie Arbeitsteilung war Voraussetzung für die Herstellung von Alkohol. Für Jäger und Sammler, wie die Nomaden der Prärie, war die Produktion von Spirituosen unvereinbar mit dem Lebensstil. Die Pueblo Indianer hätten über den nötigen Grad an Organisation verfügt; bei ihnen konnte sich Alkohol seltsamerweise jedoch nicht etablieren (siehe Barr 8 / Berger 35 / Hartmann 65 / Waldman 61 / Wissler 272 / Levy & Kunitz 62). Man darf davon ausgehen, daß vor der Ankunft der Entdecker Alkohol nördlich des Rio Grande tatsächlich so gut wie nicht vorhanden war.

Die völlige Unkenntnis der Alkoholvorkommen in Amerika vor dem ersten Kontakt mit den Europäern hat die Entstehung der historischen Theorie sicherlich begünstigt. Sie besagt, daß die Indianer es nicht von heute auf morgen vermochten, Verhaltensstandards für den Umgang mit Alkohol zu entwickeln. "History may have therefore sown the seeds" (Beauvais 253). Murray Wax schreibt in seinem Überblickswerk Indian Americans: "Western peoples have had a longer period of familiarity with both fermented beverages and distilled liquors, and therefore have had centuries, even millenia, in which to elaborate codes and rituals for handling them". Und er fährt fort: "The Indians of the Americas have had a briefer time to work out cultural responses to this novel and deadly challenge" (153). Mail und MacDonald sprechen der Theorie jedoch eine Gültigkeit für die Gegenwart ab: "Native American groups have had plenty of time..." (36f).

2.Firewater Myth und Genetik

Im Jahr 1971 veröffentlichten D. Fenna et al. eine Studie, die großes Aufsehen erregte. Fenna und sein Team untersuchten Indianer, Inuit und Weiße im Hinblick auf den Alkohol-Metabolismus, und man kam zu folgenden Ergebnissen: Nach der Infusion von Ethanol nahm die Alkoholkonzentration im Blut der weißen Probanden deutlich schneller ab als die im Blut der Ureinwohner. Sogar bei indianischen Gewohnheitstrinkern erwies sich der Alkoholstoffwechsel als erheblich träger als bei weißen Gelegenheitstrinkern. Fenna et al. führten dieses Phänomen auf genetische Ursachen zurück. Der Feuerwassermythos fand hier scheinbar endlich seine wissenschaftliche Bestätigung. Die Fenna-Studie setzte aber auch eine emotional aufgeladene Debatte in Gang, die bis heute andauert und die Thomas Young mit der Kontroverse um den IQ der schwarzen Bevölkerung vergleicht (siehe Seite 70). Der Feuerwassermythos hat seinen Ursprung allerdings weit in der Vergangenheit, als Reisende aus der Ökumene ihre Beobachtungen über die Indianer in etlichen Tagebucheintragungen und pseudo-wissenschaftlichen Aufsätzen festhielten. Wenn sie von der "constitutional weakness of the Indian in the face of alcohol" schrieben, meinten sie damit eine physiologisch begründete Empfänglichkeit für Alkohol (zitiert in Horton 207). Das Wort "Feuerwasser" selbst wird auf eine Bezeichnung der Algonkin-Sprachgruppe zurückgeführt (scoutiouabou) (siehe Mathews 613). Mail und MacDonald gehen davon aus, daß der Durchschnittsamerikaner vom Wahrheitsgehalt des Mythos überzeugt ist (siehe Seite 28). Sogar die Indianer selbst scheinen vor dem Vorurteil (eine Kombination aus "Indians drink because they are Indian" und "Indians 'can't hold their liquor like white men'") zu kapitulieren, obwohl es Diskriminierung am Arbeits- und Wohnmarkt sowie bei der Verteilung staatlicher Gelder nach sich zieht (May, "Epidemiology" 128 / Lurie 131 / siehe Brody 239ff).27 Denn warum sollte man einem hoffnungslosen Alkoholiker Job, Wohnung und Geld überlassen? In Studie um Studie jedoch wurden die Ergebnisse der Fenna-Untersuchung hinterfragt. Zunächst wurden erhebliche methodologische Mängel festgestellt. So verglich das Team zum Beispiel indianische Krankenhauspatienten mit weißen Krankenhausangestellten. Die Alkoholkonzentration wurde nicht durch Blutentnahme sondern durch die wesentlich ungenauere Überprüfung der Atemluft mit Hilfe eines breathalyzer festgestellt. Auch unterließen es Fenna et al., die Probanden vor der Durchführung der Untersuchung auf die Einnahme anderer chemischer Substanzen hin zu testen (siehe Hamer & Steinbring 2 / Young 70 / Mail & MacDonald 23f). Die Ergebnisse dürfen also angezweifelt werden. Bennion und Li konnten 1976 praktisch keine Unterschiede im Alkohol-Metabolismus zwischen indianischen und weißen Untersuchungsobjekten feststellen und widerlegten damit Fenna (siehe Young 70 / Lamarine 148 / Mail & MacDonald 23). Eine Reihe von Studien erlaubte sogar Schlüsse in die entgegengesetzte Richtung (siehe Lamarine 148 / Mail & MacDonald 24 (z.B. bei den Ojibwa / Tarahumara)). C. Garcia-Anrade et al. sprachen in einer Studie im Jahr 1997 den indianischen Probanden eine geringere Empfindlichkeit gegenüber Alkohol zu und prognostizierten der kaukasischen Bevölkerung ein höheres Risiko für Alkoholismus. Dennoch: "[The] damage had already been done" (Lamarine 148).

Es wird gemeinhin angenommen, daß sich Indianer und Asiaten bzw. Orientalen (sogenannte "mongoloide" Völker) einen gemeinsamen Genpool teilen, da man davon ausgeht, daß die Indianer vor Urzeiten (vor 15.000-40.000 Jahren) über die Bering-Landbrücke von Asien nach Amerika gelangten. Asiaten wird ebenfalls eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Alkohol nachgesagt. Die sogenannte flushing response (Erröten des Gesichtes) und weitere unangenehme Begleiterscheinungen (Schwindelgefühl, Kopfweh, Herzklopfen, Zittern etc.) des Alkoholkonsums hatten bei den Asiaten jedoch die Folge, daß sie vom Alkohol abließen. Viele Wissenschaftler weisen daher auf die Inkonsequenz der Argumentation der Feuerwassermythos-Anhänger hin, die den gemeinsamen Genpool der Indianer und Asiaten als Argument für die genetische Empfänglichkeit anführen. Entweder weisen Indianer nicht die genetische Übereinstimmung mit Asiaten auf, die so oft postuliert wird, oder die angenehmen übertrumpfen die unangenehmen Begleiterscheinungen des Alkohols bei Indianern in höherem Maße als bei Asiaten (siehe Mail & MacDonald 24ff). Douglas Rex et al. folgen der ersteren Empfehlung und demontieren in ihrer Studie aus dem Jahr 1985 die Theorie des gemeinsamen Genpools: Lediglich die Indios Mittel- und Südamerikas wiesen genetische Ähnlichkeiten mit den Asiaten auf; die Indianer Nordamerikas hingegen tendierten mehr zur kaukasischen Bevölkerung. Überhaupt ist man sich über die Implikationen des Feuerwassermythos nicht einig: Manche Unterstützer der Theorie nennen den bereits erwähnten langsameren Abbau (Metabolismus / Stoffwechsel) der Alkoholkonzentration im Blut durch einen Mangel (oder Defekt) an Enzymen wie dem Aldehyd Dehydrogenase Isoenzym - was zu stärkeren Reaktionen auf Alkohol führt - oder sie geben die ebenfalls schon oben genannten intensivierten vasomotorischen, d.h. die Gefäßnerven betreffenden, Begleiterscheinungen (flushing response etc.) an (siehe Mail & MacDonald 24); wieder andere gehen von einem erhöhten Risiko für Alkoholabhängigkeit aus (siehe Griffith 50). Diese Uneinigkeit bezüglich der Wirkungsmodelle beweist schon, auf welch wackeligen Beinen der Feuerwassermythos steht.

Es läßt sich allerdings nachvollziehen, wo dieser Glaube an genetische Ursachen seinen Ursprung hat: im Trinkverhalten der Indianer. Da der Rausch und die Besinnungslosigkeit die erklärten Ziele des Alkoholkonsums in den peer groups sind, werden sie mit Ungeduld antizipiert. Man empfindet keine Scham oder Schuldgefühle ob des Kontrollverlustes. Im Gegenteil: Man ist mit Stolz erfüllt: "I got good and drunk" ist ein charakteristischer indianischer Ausspruch. Die Reaktionen auf Alkohol werden übertrieben dargestellt, ja selbst vollkommen simuliert - ob nun bewußt oder unbewußt. Es gibt sogar Anekdoten über Indianer, die beim bloßen Riechen am Korken oder der offenen Weinflasche Symptome des Rausches aufwiesen. So groß ist die Macht der Suggestion, daß geringste Mengen ausreichen. Auch in der bereits erwähnten Garcia-Anrade-Studie, in der man mit Placebos operierte, zeigten die Probanden zwar keine Reaktionen im objektiven, medizinischen Sinne (Blutdruck, Pulsrate, Hormonspiegel), jedoch im subjektiven, selbst-empfundenen Sinne. Als Beweis für dieses Phänomen wird der sobering effect angeführt: Falls es die Situation erfordert, können die Symptome von einer Sekunde zur nächsten abgestellt werden. Man ist wieder "nüchtern" und einsatzbereit (Brody 222 / 225f; siehe auch Levy & Kunitz 152 / Hamer & Steinbring 292 / Baker 200 / Lemert 58 / 60 / Van Stone 39).28

Die zwei potentesten Argumente gegen den Feuerwassermythos sehen Craig MacAndrew und Robert Edgerton allerdings in den frühesten Begegnungen der Indianer mit Alkohol: Zum einen gibt es Anzeichen, daß viele Stämme dem Geschmack und den Wirkungen von Alkohol zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden. Zum anderen wird den ersten Händlern, Trappern, Holzfällern, Bergarbeitern, Landarbeitern, Cowboys, Eisenbahnarbeitern, Armeeangehörigen und Outlaws ein mit dem indianischen binge drinking vergleichbares Alkoholverhalten nachgesagt.29 Die Trinknormen Londons, Paris' und Madrids hatten anscheinend an der frontier kaum Wirkung. Aus diesen beiden Komponenten ergäbe sich, daß das Trinkverhalten nicht genetisch bedingt, sondern auf eine Lernerfahrung zurückzuführen ist. Die Weißen dienten als Modell (siehe Mail & MacDonald 1 / 37 / Westermeyer 112 / Dorris 82ff). Ein führender Häuptling äußerte sich im Jahr 1675 in Quebec folgendermaßen darüber: "It is you who have taught us to drink this liquor and now we cannot do without it" (zitiert in Hamer & Steinbring 19). Levy und Kunitz zitieren die Beschreibung des jährlichen "Rendezvous" von Händlern in Fort Hall, Idaho, im Winter 1833 / 34, das starke Züge eines "typisch indianischen" Trinkgelages trägt:

The consequence was a scene of rioting, noise, and fighting during the whole day; some became so drunk that their senses fled entirely, and they were therefore harmless; but by far the greater number were just sufficiently under the influence of the vile trash, to render them in their conduct disgusting and tiger-like. We had gouging, biting, fisticuffing and 'stomping' in the most 'scientific' perfection; some even fired guns and pistols at each other, but these weapons were mostly harmless in the unsteady hand which employed them. Such scenes I hope never to witness again. (zitiert auf Seite 69)

Ein gewisser Harmon beobachtete im Jahr 1811 ebensolches Verhalten und die Reaktionen der Carrier (Indianer der Subarktis) auf den Rausch der trinkenden Weißen. Sie nahmen an, die Europäer seien verrückt geworden, und zeigten sich überrascht, als sie nach Ausschlafen des Rausches wieder zur Normalität zurückkehrten (siehe Hamer & Steinbring 19). Die Händler bestanden jedoch hartnäckig darauf, daß die Indianer ihre Alkoholpräsente annahmen. Und da es der indianischen Mentalität widerspricht, Geschenke auszuschlagen, akzeptierten sie und tranken (siehe Levy & Kunitz 71 / Dorris 83). Die anfängliche Skepsis und Ablehnung verschwanden. Es gab aber auch Stämme, die sich weiterhin nicht für Alkohol erwärmen konnten; so zum Beispiel solche, die zum Christentum konvertiert waren. Huronen, Arikara, Sioux und Crow genossen die Reputation, Alkohol abzulehnen. Sie waren aber wohl zu den Boomzeiten des Handels die Ausnahmen der Regel (siehe Hamer & Steinbring 15 / Tyler 37).30

Gegenwärtig geben Wissenschaftler anderen Faktoren den Vorrang vor physiologischen Theorien. Man geht davon aus, daß genetische Unterschiede innerhalb einer Bevölkerungsgruppe um ein Vielfaches extremer sind als zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen (siehe May, "Epidemiology" 124 / Beauvais 256). Ohnehin vermischen sich die verschiedenen Stämme immer mehr untereinander und mit der nicht-indianischen Bevölkerung. Die Frage "nature oder nurture?" wird seit kurzer Zeit31 eindeutig mit nurture beantwortet. Das medizinische Lehrbuch Psychiatrie gibt ein dreifaktorielles Bedingungsgefüge an: Droge-Individuum-soziales Umfeld (siehe Laux 290). Kulturelle, ökonomische und psychologische Faktoren drängen den genetischen Determinismus immer mehr in den Hintergrund des Interesses.

3.Eskapismus: Armut und Akkulturationsstreß

Die Eskapismus-Theorie ist eine Theorie, die sich mit dem sozialen Umfeld beschäftigt. Impliziert wird ein Rückzug in eine Scheinwelt, eine Flucht vor den Zuständen der Realität, die so frustrierend und hoffnungslos ist, daß man sich Alkohol-induzierte Auszeiten gönnen muß (siehe Laux 283).32 Schon zu Zeiten des Pelzhandels fand dieses Erklärungsmodell offenbar Anwendung, wie folgendes Zitat des Pelzhändlers Cameron beweist:

It is not from absolute sensuality, nor for the sole pleasure of drinking that the flavour of liquor creates such an irresistible craving for more; they merely seek in their orgies a state of oblivion, of stupefaction, and a kind of cessation of existence, which constitutes their greatest enjoyment. (zitiert in Hamer & Steinbring 17)

Die Theorie schlägt dabei zwei Richtungen ein: Ein Zweig beschäftigt sich mit den sozioökonomischen Lebensbedingungen der Indianer (deprivation theories) (Mail & MacDonald 56), der andere mit dem durch die Akkulturation / Dekulturation verursachten Psychostreß (stress theory) (Honigmann, "Cultural Context" 31). Immer wieder werden die Lebensumstände der Indianer mit denen der Dritten Welt verglichen (siehe Bachman 6 / Churchill 8). Und tatsächlich hinken die sozioökonomischen Indikatoren weit hinter denen der weißen Bevölkerung hinterher. Die Liste an Unzulänglichkeiten ist lang: Indianer genießen nur unzureichende Bildung, die Arbeitslosigkeit ist hoch, das Einkommen derer, die Arbeit gefunden haben, entsprechend niedrig, die Wohnungslage ist katastrophal, das Land ist wenig produktiv, und die Gesundheitsversorgung liegt weit unter dem nationalen Standard. So stellen zum Beispiel die Pine Ridge und Rosebud Reservate der Sioux, die zu den größten des Landes gehören, die zwei ärmsten Counties der Nation (siehe Dorris 190). Diese Armut veranlaßt Wolfgang Lindig und Mark Münzel in ihrem Überblickswerk Die Indianer dazu, vom "Elendsalkoholismus" zu sprechen (348). Eine dem Eskapismus untergeordnete Theorie, die oft zur Erklärung des Alkoholmißbrauchs unter Native Americans herangezogen wird, ist die sogenannte anomy theory, deren Konzept Robert Merton in den 1930ern entwarf: Sie besagt, daß sich eine Diskrepanz zwischen den zur Verfügung stehenden Mitteln und den angestrebten Zielen (means-goals-disjunction) in devianten Verhaltensweisen wie zum Beispiel exzessivem Alkoholkonsum äußert (siehe Bachman 48 / Levy & Kunitz 16 / Young 69).

Die stress theory bezieht sich auf den Druck, sich an die fremde Kultur angleichen zu müssen, und die Belastung durch den gleichzeitigen Verfall (disintegration hypothesis) (Rorabaugh 244) der eigenen Kultur. Akkulturation und Dekulturation hatten und haben Auswirkungen auf das Gemüt der Indianer. Bis heute verweisen viele Forscher in diesem Zusammenhang auf Hortons anxiety hypothesis. Die vornehmliche Funktion von Alkoholkonsum ist demnach die Reduzierung von Ängsten und Unsicherheiten - auch nahrungstechnischen -, die sich aus der Akkulturations- und Dekulturations-Situation ergeben. Hierbei ist die Angst der stimulus, der Alkohol die response. Manche historische Ereignisse hatten scheinbar einen besonders großen Einfluß auf das Trinkverhalten: die Indianerkriege der Kolonialzeit, Prohibition, Removal, Allotment, die zwei Weltkriege, Termination und Relocation... "Heavy drinking was not unusual during these upheavals" (Baker 197ff). Mit den vielen Demütigungen, Diskriminierungen und Unterjochungen, die sich für die Indianer aus dem Kontakt mit den Weißen ergaben, gingen ein geringeres Selbstwertgefühl bzw. ein Gefühl der Minderwertigkeit gegenüber den Weißen einher sowie Empfindungen der mangelnden Kontrolle über das eigene Leben und der Abhängigkeit von Weißen.

Bei der Eskapismus-Theorie handelt es sich ähnlich wie beim Feuerwassermythos um einen Ansatz, der besonders von Laien aufgegriffen wird. Wieder ist ein leicht deterministischer Zug zu erkennen, denn die Reservate lassen sich nicht von heute auf morgen in blühende Landschaften umwandeln. Das Gros der Wissenschaftler jedoch hält diesen Erklärungsversuch zumindest für zu simplifiziert. Die Liste der Kritiker ist lang. Besonders Levy und Kunitz wehren sich gegen den "favorite catchall 'acculturation stress'" (Kunitz 158). Sie ermittelten in ihrer gemeinsamen Studie sogar ein inverses Verhältnis zwischen Akkulturationsgrad und Alkoholkonsum (siehe Seite 174).33 Desweiteren geben sie zu bedenken, daß es in der Vergangenheit weitaus aufwühlendere Ereignisse als Kriege und Umsiedelungen gab, die trotzdem nicht zu eskapistischem Verhalten führten (siehe Seite 195).34 Ihrer Ansicht nach entspringt die Popularität der Eskapismus-Theorie der Neigung, die indianische Lebensweise der Vergangenheit zu idealisieren und die moderne Massengesellschaft im selben Zuge zu verteufeln (siehe Seite 195). Mail und MacDonald deuten auf das Paradox hin, daß indianische Frauen zwar denselben Lebensumständen unterworfen sind, sie aber vielen mit Alkohol assoziierten Problemen bisher besser aus dem Weg gehen konnten als ihre Männer (siehe Seite viiif).35 Arnold Krupat warnt davor, alle Indianer zu verarmten Opfern zu stempeln. Als positive Gegenbeispiele nennt er die durch Öl zu Reichtum gekommenen Stämme Oklahomas (siehe Seite 31). H. Brody räumt eine Gültigkeit des Eskapismus für den Standort "Reservat" ein, verwirft sie aber für sein eigenes Studienobjekt, die städtische skid row, vehement (siehe Seiten 210 / 219f).

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