Deutsch-Amerikanischer Almanach

Nina Gartz
Indianer und Alkoholmißbrauch

3.Weitere Begleiterscheinungen

a.Verbrechen allgemein

Mord und das Fahren unter dem Einfluß von Alkohol - beides schwere Delikte - wurden bereits in vorangegangenen Kapiteln angesprochen. In diesem Abschnitt aber geht es eher um sogenannte Bagatelldelikte. William Hagan schreibt in seinem Überblickswerk American Indians: "Gallup, New Mexico, 'The Indian Capital', sees scores of Indians arrested every weekend for difficulties growing out of excessive drinking" (160). Hagan begibt sich mit dieser Aussage in den Kreis derer, die eine Verbindung zwischen der Anzahl der Verhaftungen und dem "Alkoholproblem" der Indianer herstellen. Auch bei dieser Folgerung ist Vorsicht geboten, denn wie im Falle der häufigsten Todesursachen wird das Bild verzerrt präsentiert. Es heißt, Indianer stellten einen unverhältnismäßig großen Teil der Gefängnisinsassen und sie würden 20 mal so oft für unter dem Einfluß von Alkohol begangene Straftaten verhaftet wie ihre weißen Mitbürger (siehe Mail & MacDonald 11f).70

Diese Zahlen kommen aber hauptsächlich zustande, weil für Indianer der bloße Besitz von Spirituosen auf dem Gebiet "trockener" Reservate bereits strafbar ist. Somit ist die Auswirkung der Prohibition die Steigerung der Deliktzahlen in den Reservaten sowie ein Verlagerung des Konsums auf die außerhalb der Reservate gelegenen Städte.71 Dort ist dann der Vorwurf der Landstreicherei auf indianische Alkoholsünder anwendbar, denn im berauschten Zustand haben sie in den "trockenen" Reservaten tatsächlich kein legitimes Heim (siehe Wax 154). In der Vergangenheit trug auch die Tatsache, daß binge drinking ein öffentlich vollzogenes Ritual ist, zur hohen Anzahl der Arreste bei. Im FBI Uniform Crime Report von 1967 ist zu lesen, daß 71 Prozent aller Verhaftungen von Indianern für öffentliche Trunkenheit erfolgten und nicht etwa für schwerere Delikte (siehe Levy & Kunitz 169f). Dieser Praxis wurde allerdings durch die Einführung des Uniform Alcoholism and Intoxication Treatment Act im Jahre 1971 Einhalt geboten. Den einzelnen Bundesstaaten wurde die Implementierung des Gesetzes zur Entkriminalisierung öffentlicher Trunkenheit lediglich empfohlen; viele Staaten jedoch leisteten der Empfehlung prompt Folge (siehe Snake 89ff / Baker 195). Ein weiterer Punkt ist die Tatsache, daß Freiheitsberaubungen auf Indianer oft keine abschreckende Wirkung haben. Sie können den Anstoß, den Weiße an ihrem Verhalten nehmen, nicht nachvollziehen. Kein Stigma ist deshalb mit einer Internierung verbunden. Im Gegenteil: Brody berichtet vom Prestige, das indianische Insassen genießen, von der Kameradschaft der Gefangenen untereinander, sowie von der Wertschätzung einer Mahlzeit und Ruhestätte (siehe Seiten 258f; siehe auch Mail & MacDonald 12 / Westermeyer 114). Der Schaden, den indianische Mehrfachtäter im Hinblick auf die Arreststatistiken anrichten, wurde bereits in der Einleitung erläutert.

Oft wird weißen Gesetzeshütern auch schlicht Diskriminierung im Umgang mit Indianern vorgeworfen. Die Task Force Eleven spricht sogar von einer "open season", also einer Art Jagd auf indianische Alkoholsünder (Snake 28). Levy und Kunitz äußern die Vermutung, daß weiße Behörden durch Indianern aufoktroyierte Geldstrafen und Zwangsarbeit ihr eigenes knapp bemessenes Budget aufzustocken versuchen (siehe Seiten 74f). Wax unterstellt den Behörden darüber hinaus die Vorgabe täglicher Quoten, die von Polizeibeamten zu erfüllen sind. "[T]here is a natural tendency for some patrolmen to meet their daily quota by victimizing a population that is politically powerless and socially conspicuous in a fashion judged negatively by community leaders" (154). Aus dieser Bemerkung läßt sich auch der Verdacht heraushören, daß Polizisten den Auftrag erhalten, die Straßen von indianischem "Abschaum" zu befreien. Zudem fällt es Indianern erheblich schwerer, aus ihren begrenzten finanziellen Mitteln die Kaution zu stellen, als weißen Alkoholsündern (siehe Matthiessen 25 / 34).

Mail und MacDonald allerdings gehen davon aus, daß Diskriminierung und Nachsicht der weißen Behörden im Umgang mit indianischen Straftätern sich in etwa die Waage halten, oder daß der Grad an Diskriminierung zumindest nicht den Grad an Überrepräsentation der indianischen Bevölkerung in den Gefängnissen und Arrestzellen der Polizeipräsidien rechtfertigt (siehe Seite 11). Denn ebenso wie Indianer gelegentliche time out periods genehmigen, so tun dies auch weiße Gesetzeshüter und Gerichte. Man übt Milde im Umgang mit alkoholisierten Gesetzesübertretern, denen man eine verringerte Zurechnungsfähigkeit und damit Strafmündigkeit zuspricht. "There is a tendency to 'go easy' on [...] Indians", erkennt auch Brody (231). Gefängnisstrafen fallen kürzer aus, Geldstrafen weniger hoch. Man hofft so, der Situation ihre Brisanz zu nehmen (siehe Brody 258f / Bachman 52f / Lemert 65 / Hamer 121 / Horton 255).

b.Häusliche Gewalt und Vernachlässigung

(.Alkohol und Arbeitswelt

Es wird oft behauptet, daß der Mißbrauch finanzieller Ressourcen in indianischen Haushalten für Zündstoff sorgt (siehe Maynard & Twiss 166 / Levy & Kunitz 173).72 Besonders Männern wird vorgehalten, Einnahmen aus Beschäftigungen ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse von Frauen und Kindern für einen schnellen Rausch auszugeben. Die sogenannten "payday binges" indianischer Arbeiter und Sozialhilfeempfänger, bei denen der gesamte Wochen- oder Monatslohn bzw. die auf den Sozialhilfeschecks angegebene Summe innerhalb kürzester Zeit verschleudert wird, sind berüchtigt (siehe Weibel-Orlando 301 / 305ff). Sie seien zudem unzuverlässige Arbeitskräfte, die nach dem Erwerb von ein wenig "beer money" den Job innerhalb von zwei bis drei Tagen ohne Einhaltung der Kündigungsfrist oder Beantragung von Urlaub verlassen (siehe Hamer 122). Darüber hinaus sollen Arbeitslosigkeit und Alkoholkonsum häufig Hand in Hand gehen (siehe Lamarine 149 / Bachman 49 / 54). So lastet die Versorgung der Kinder oft alleinig auf den Schultern der Mütter (siehe Manson 124).

Es gibt aber auch gegenteilige Ansichten, die besagen, daß gerade der binge style ein Reüssieren in der Arbeitswelt ermöglicht. Binges vollziehen sich hauptsächlich an Abenden und Wochenenden. Unter der Woche kehrt eine weitestgehende Normalität ein. Zwischen "drinking day" und "nondrinking day" wird streng unterschieden (siehe Levy & Kunitz 190 / Van Stone 33 / 39 / Hamer 115 / Horton 257 / Honigmann, "Cultural Context" 32 / Beauvais 254f). Und auch Arbeitslosigkeit bedeutet in den ländlichen Reservaten nicht unbedingt vollkommene Untätigkeit. Fred Streit und Mark Nicolich konnten in ihrer in Schulen Montanas durchgeführten Studie sogar feststellen, daß arbeitslose Mütter und Väter sich besonders intensiv ihren Kindern widmen, und letztere deshalb später seltener zum Alkohol- und Drogenkonsum neigen (siehe Seite 122).73

(.Eltern-Kinder

Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wächst die indianische Bevölkerung unverhältnismäßig schnell. Indianische Eltern sind sehr jung, und die zeitlichen Abstände zwischen den Schwangerschaften sind sehr kurz. So gehören indianische Familien zu den kinderreichsten, mit einer Durchschnittsanzahl von vier bis fünf Kindern pro Familie (siehe Griffith 56 / Young 65 / Manson 113f / May, "Prevention Programs" 187). Obwohl dem Thema "Indianische Jugend und Alkohol" noch nicht die Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, die es verdient, gibt es erste Anzeichen dafür, daß Indianer über alle Stammes- und Geschlechtergrenzen hinweg wesentlich früher mit dem Trinken beginnen als ihre nicht-indianischen Altersgenossen oder die vorangegangene indianische Generation (siehe Mail & MacDonald viiif). Mail und MacDonald zitieren zur Veranschaulichung das Beispiel eines neun-jährigen indianischen Jungen, der deutliche Anzeichen von Delirium Tremens, der von Zittern und Halluzinationen geprägten Begleiterscheinung des Alkoholismus, aufwies (siehe Seite 14). Besonders hervorgetan hat sich Fred Beauvais bei der Untersuchung dieses Phänomens in zahlreichen Studien. Er fand zum Beispiel heraus, daß für indianische Teenager Trinken wesentlich öfter exzessive Ausmaße annimmt und daher von einer größeren Anzahl negativer Begleiterscheinungen gekennzeichnet ist (siehe Seiten 254ff). Für viele Native Americans ergibt sich der erste Kontakt mit Spirituosen im familiären Umfeld (siehe Lamarine 145ff / Manson 124). Eltern, Verwandte und Bekannte lassen Kinder und Jugendliche früh an ihren binges teilhaben. Dieses von großer Permissivität und laxer Selbstdisziplin gekennzeichnete Verhalten von Seiten der Eltern sowie das Miterleben der drastischen Auswüchse ausgewachsener Trinkgelage prägen das zukünftige Verhalten der jüngeren Generation.74 Maynard und Twiss sehen auch einen direkten Zusammenhang zwischen elterlichem Alkoholmißbrauch und FTSDP (failure to support dependent persons) (siehe Seite 164). Kinder werden oft für die Dauer der binges, also manchmal für etliche Tage, unbeaufsichtigt gelassen. Die Folgen von elterlichem Alkoholmißbrauch gekoppelt mit Verletzungen der elterlichen Aufsichtspflicht sind oft (aber keinesfalls immer) extremer Alkoholkonsum, Gesundheitsprobleme, Schwierigkeiten in der Schule bis hin zum vorzeitigen Abbruch, Arbeitslosigkeit und Kriminalität der so vernachlässigten Nachkommenschaft (siehe Lamarine 146 / Mail & MacDonald 14). Durch die mangelnde familiäre Stabilität und Routine entsteht ein "self-perpetuating cycle of alcohol use", ein Weiterreichen des Alkoholproblems von einer Generation zur nächsten (Griffith 56; siehe auch May, "Epidemiology" 132f). Manson sieht überdies einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Todesfällen in der unmittelbaren Familie (viele davon durch Alkohol herbeigeführt) und einem erhöhten Risiko für Alkoholmissbrauch (siehe Seiten 124f). Dorris erwägt neben der vorbildstechnischen sogar noch eine genetische Komponente der Übertragung von Verhaltensweisen von Eltern auf Kinder. Als Beweis führt er Kinder von Alkoholikern an, die bald nach der Geburt in Pflege- und Adoptivfamilien plaziert wurden. Trotz des nun häufig vorbildhaften Verhaltens der Ersatzeltern konnten Alkoholkonsum und Kriminalität der Pflege- und Adoptivkinder nicht vermieden werden. Solch deviante Charakteristika scheinen somit in den von den Eltern (und hier besonders vom Vater) vererbten Anlagen verankert zu sein (siehe Seite 90).75

(.Ehemann-Ehefrau

Aus den veränderten Geschlechterrollen im Zuge der Akkulturation von Indianern sowie im Zuge der allgemeinen Emanzipation der Frau ergibt sich ein erhebliches Zündstoffpotential für indianische Familien. So gehören zum Beispiel Konflikte zwischen Ehepartnern, die durch Alkohol an Intensität gewinnen oder gar erst zum Vorschein kommen, zu den häufigen Beobachtungen. Frauen sind oftmals die Leidtragenden. In Interviews mit 92 Frauen, die nach handgreiflichen Auseinandersetzungen mit ihren Ehemännern in sogenannten Frauenhäusern Zuflucht gefunden hatten, gaben drei Viertel der Befragten gegenüber Bachman an, Alkoholkonsum sei der Vorbote der Gewalt gewesen. Diesen drei Vierteln stehen nur 24 Prozent in der Gesamtbevölkerung gegenüber (siehe Seite 94).76 Bachman konnte sogar eine lineare Verbindung zwischen dem Alkoholkonsum auf der einen Seite und der Häufigkeit von gegen Frauen gerichteter Gewalt auf der anderen Seite feststellen. Besonders binge drinking (geringe Frequenz, aber hohe Intensität) schien die Wahrscheinlichkeit von innerfamiliärem Mißbrauch zu potenzieren (siehe Seiten 97 / 103ff).77 Auch andere dyadische Verhältnisse wie die zwischen Vater und Sohn sowie zwischen Onkel und Neffe scheinen über ein hohes Konfliktpotential zu verfügen (siehe Levy & Kunitz 187f).

c.Erbschäden

Bereits im Alten Testament, im Talmud, bei Aristoteles, Plato und Plutarch wurde auf einen Zusammenhang zwischen mütterlichem Alkoholkonsum und negativen Konsequenzen für das ungeborene Kind hingewiesen (siehe Dorris 144). Es sollte aber viele Jahrhunderte dauern, bis schließlich im Jahr 1973 zwei Wissenschaftler der University of Washington in Seattle den negativen Konsequenzen einen Namen gaben: Fetal Alcohol Syndrom (FAS) (siehe Streissguth & Kanter xi). Von diesem Augenblick an begann eine intensive Beschäftigung mit dem Thema, besonders im Rahmen der indianischen Bevölkerung. Nationale und internationale Aufmerksamkeit erlangte FAS durch den 1989 veröffentlichten und wenig später verfilmten Bestseller Broken Cord des indianisch-irischen Autors Michael Dorris. Das Buch - eine Mischung aus Autobiographie und anthropologischem Forschungsbericht - beschäftigt sich mit einer der ersten in der Geschichte der USA von einem alleinstehenden Mann getätigten Adoptionen. Dorris nahm sich 1971 eines Sioux Jungen namens Adam an. Daß es sich bei Adam um das Kind extremer Alkoholiker handelte, gaben die Behörden nur zögerlich preis. Der Bestseller handelt nun vom beschwerlichen Weg der Diagnose und des 20 Jahre andauernden Arrangierens mit den Symptomen des Fetal Alcohol Syndroms.78

Zu den phäno- und genotypischen Symptomen79 zählt zunächst ein erheblich verringerter IQ von lediglich 65 bis 80, also an der Grenze zur geistigen Behinderung. Darüber hinaus treten Gesichts-, Handflächen- und Gelenkanomalien, eine Krümmung der Wirbelsäule, Klumpfüße, ein gehemmtes Wachstum, motorische Störungen, eingeschränktes Hör- und Sehvermögen sowie Mißbildungen der inneren Organe auf. Aus diesen primären Behinderungen ergeben sich sekundäre Beeinträchtigungen, die eine unabhängige Lebensführung oft unmöglich machen. FAS-Opfer lernen nicht durch Erfahrung, sie haben ein schlechtes Erinnerungsvermögen, eine kurze Aufmerksamkeitsspanne, sie denken nicht an Konsequenzen ihres Verhaltens, sondern leben einzig und allein in der Gegenwart, sie verfügen über kein Vorstellungsvermögen, sie entwickeln keine Neugier oder Leidenschaft, sind hyperaktiv etc. Sie tendieren dazu, sich von ihren Mitmenschen zu isolieren oder aufgrund ihrer Andersartigkeit isoliert zu werden.80 Aus diesen Symptomen ergibt sich, daß ihre Chancen in Ausbildung, Arbeitswelt und als Eltern eigener Kinder begrenzt sind. Sie neigen wie ihre Eltern zu Alkohol- und Drogenmißbrauch, zu kriminellen Handlungen vom Diebstahl bis hin zu sexuellen Übergriffen, zu riskantem Verhalten und Selbstmord. Auch hier ergibt sich also eine Kettenreaktion, eine Übertragung des Alkoholproblems von Eltern auf FAS-Kinder und von FAS-Kindern, sofern es ihnen gestattet wird, sich zu reproduzieren, und der Alkoholkonsum nicht unterbunden wird, auf deren eigene Kinder (siehe Dorris 179f / 192f). Allerdings trifft die Bezeichnung FAS nur auf Patienten zu, die alle oben genannten Symptome aufweisen. Treten die Anzeichen lediglich vereinzelt auf, so handelt es sich um sogenannte Fetal Alcohol Effects (FAE), die schwerer zu diagnostizieren sind, jedoch wesentlich häufiger auftreten als das vollständige Krankheitsbild.81 FAS und FAE können entstehen, wenn eine Mutter während ihrer Schwangerschaft Alkohol konsumiert. Der Alkohol dringt wie andere von der Mutter aufgenommene Nährstoffe durch die Nabelschnur in die Gebärmutter vor. Der Fötus hat jedoch eine erheblich geringere Kapazität als seine Mutter, Alkohol abzubauen, und so sammelt sich Alkohol in hohen Konzentrationen im Uterus an. Alkohol wirkt teratogen, d.h. durch ihn kann es zu den erläuterten Mißbildungen kommen (siehe Dorris 146f).82 Schädigungen können sich auch im Anschluß an die Geburt durch die Aufnahme von Alkohol in der Muttermilch stillender Mütter ergeben. Bei beiden Übertragungswegen hängt die Gefahr einer Beeinträchtigung des Kindes von vielen Faktoren ab: von Alter und Konstitution der Mutter, von Dosis und Timing der Alkoholaufnahme sowie von der allgemeinen Sensibilität des Fötus oder Säuglings (siehe Dorris 182 / 232). Über die Grenze zwischen unbedenklichem und bedenklichem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft gehen die Meinungen stark auseinander. Manche befürworten absolute Abstinenz, andere sehen in einem gelegentlichen Drink keine schwerwiegenden medizinischen Konsequenzen (siehe Dorris 183 / 220f / Cook-Lynn 111).83

FAS ist natürlich kein rein indianisches Phänomen, aber es gibt statistische Anzeichen dafür, daß besonders diese Bevölkerungsgruppe stark gefährdet ist. Sind gesamtgesellschaftlich betrachtet nur 2,2 von 1000 Geburten betroffen, so sind es in der indianischen Bevölkerung - je nach geographischer Lage und vorherrschendem Trinkstil - 1,6 bis 10,3 Geburten (siehe Beauvais 255). Dorris, dem von Elizabeth Cook-Lynn eine maßlose Übertreibung des Ausmaßes vorgeworfen wird (siehe Cook-Lynn 11ff), verweist nach Interviews mit diversen Schulangestellten auf wesentlich höhere Schätzungen im Falle von FAE: 20 bis 50 Prozent der Kinder im schulfähigen Alter sollen in manchen Reservaten unter den Auswirkungen mütterlichen Trinkens leiden.84 "[W]hat we're talking about here is the survival of Indian people", bekräftigt Dorris (215). Aufgrund des zunehmenden Alkoholkonsums durch Frauen darf auch angenommen werden, daß die FAS-Rate im Falle des Scheiterns von Präventionsanstrengungen weiter ansteigen wird. May aber warnt vor einer Überbewertung solcher Zahlen. Wie bei den anderen Begleiterscheinungen treten auch bei FAS Verzerrungen auf. Gemeinden, Familien und Frauen mit multiplen FAS-Geburten ziehen die Statistiken der gesamten indianischen Bevölkerung stark in Mitleidenschaft. Außerdem spielen die Medien das Ausmaß hoch, und dem Phänomen wird bei Indianern mehr Aufmerksamkeit geschenkt als beim Rest der Nation. Für die gesamten USA darf eine wesentlich höhere Dunkelziffer angenommen werden als für die "überforschte" indianische Bevölkerungsgruppe (siehe May, "Epidemiology" 136f). Dennoch wird seit den 1980er Jahren der Prävention erwartungsgemäß ein hoher Stellenwert eingeräumt, denn erstens handelt sich um ein vollkommen vermeidbares Phänomen und zweitens sind die Behandlungsmöglichkeiten nach erfolgter Diagnose, also nach der Geburt, stark eingeschränkt.85 Im Jahr 1981 gab der damalige Surgeon General Koop deswegen eine Warnung bezüglich der negativen Konsequenzen von Alkoholkonsum auf die Schwangerschaft aus, und seit 1989 müssen Alkoholvertreiber verpflichtend Hinweisetiketten an alkoholischen Getränken anbringen. Der amerikanische Anwalt Barry Epstein vertrat sogar eine Gruppe von FAS-Opfern in einer Klage gegen einige Alkoholhersteller (siehe Streissguth & Kanter xii / Dorris 220). Im Jahr 1996 fand eine internationale FAS-Konferenz in Seattle, Washington, statt, bei der sich in einer eigenen Session dem Thema "Native Americans" gewidmet wurde.86

FAS ist aber auch abgesehen von der Frage der Korrektheit der Statistiken ein sehr kontroverses Thema. Dies verdeutlicht der Mary Big Pipe Case von 1989. Einer jungen, Alkohol konsumierenden, indianischen Mutter in South Dakota wurden per Gerichtsbeschluß ihr Neugeborenes Sadie sowie ihre zwei weiteren Kinder entzogen; diese wurden in Pflegefamilien plaziert, und die Mutter wurde für die Dauer von vier Jahren inhaftiert. Trotz der Tatsache, daß Alkoholismus seit 1956 auch von der American Medical Association als Krankheit anerkannt ist, wurde im Falle Marys auf Kindesmißhandlung entschieden. Es wurde sogar eine Absicht unterstellt, welche die Kindesmißhandlung auf den Rang eines Kapitalverbrechens erhob und somit staatliche Einmischung rechtfertigte. Alkoholismus wurde im Endeffekt kriminalisiert, die Opferrolle in eine Täterrolle umgewandelt.87 Eine Polarisierung ist erkennbar: die Anhänger der Rechte des ungeborenen Kindes wie Dorris auf der einen Seite und die Befürworter der Rechte der Mutter wie Cook-Lynn auf der anderen Seite.88 Cook-Lynn wirft den überwiegend männlich und weiß geprägten Behörden eine Verletzung der Bürger-, Menschen- und Vetragsrechte sowie der "reproductive rights" vor. Darüber hinaus wehrt sie sich gegen die Tatsache, daß indianischen Frauen die alleinige Verantwortung übertragen wird, indianische Männer jedoch weitestgehend unbehelligt bleiben. Frauen würden als ernsthafte Bedrohung für die indianische Bevölkerung gebrandmarkt.89 Zudem würde der falsche Eindruck erweckt, die Mehrheit der indianischen Frauen seinen extreme Alkoholkonsumenten. Durch das Kriminalisieren des Alkoholismus würde außerdem die Minderheit der weiblichen Alkoholiker von der Inanspruchnahme medizinischer Einrichtungen abgeschreckt. Dorris erkennt zwar die rechtliche und ethische Grauzone solcher gerichtlichen Entscheidung an, erklärt aber, man müsse sich zum Schutz der Kinder für das kleinere Übel entscheiden und eine Art Kriegsrecht gelten lassen (siehe Seiten 174ff / 215).90 Neben der im Pipe-Fall angewendeten Inhaftierung und Plazierung der Kinder in - auch nicht-indianischen - Pflegefamilien, erwägt die Dorris-Partei selbst Zwangssterilisierungen alkoholgefährdeter Frauen, wie bereits in der Vergangenheit geschehen (siehe Churchill 8 / Dorris 215).

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