Nina Gartz
Indianer und Alkoholmißbrauch
C.Ein indianischer Trinkstil: Binge Drinking
Wie bereits in der Einleitung erwähnt, beschäftigt sich das Gros der Studien mit der exzessiven Variante des Alkoholkonsums unter den Indianern. Dabei wird leider die Tatsache unterschlagen, daß die Mehrheit der Native Americans überhaupt nicht oder nur gemäßigt trinkt. Sogar im Vergleich mit der kaukasischen Mehrheit des Landes schneiden Indianer positiv ab. Die Abstinenzrate liegt mit über 50 Prozent weit über der der Gesamtbevölkerung (25 Prozent) (siehe Lamarine 144 / 147). Selbst für die Navajo, die in vielen Filmen und Büchern als Paradebeispiel des trunksüchtigen Stammes dargestellt werden, werden Abstinenzraten von 48 bis 60 Prozent angegeben (siehe Griffith 51: 48%; Levy & Kunitz 135: 58%; Lamarine 144: 60%). Spero Manson et al. trafen im Rahmen einer Studie bei einem Interview sogar auf einen indianischen Interviewpartner, der auf die Frage "Have you ever been drunk?" mit ungezügelter Wut reagierte (121). Was die Unterschlagung wichtiger Fakten anrichten kann, zeigt der Fall von Inuit in Barrow, einer Stadt im Nordwesten Alaskas, die sich selbst für pathologische Trinker halten, obwohl sie pro Kopf 15 mal weniger Alkohol konsumieren als die weiße Bevölkerung der Stadt (siehe Wax 161). In der Tat ist es aber so, daß diejenigen Indianer, die Alkohol zu sich nehmen, dies in rauhen Mengen tun. Es scheint also, als ob in punkto Alkohol eine klare Polarität vorherrscht: Abstinenz oder exzessiver Konsum - entweder - oder, alles oder nichts. Ezra Griffith et al. geben in ihrer Zusammenfassung der Thematik an, daß laut dem National Health Service 40 Prozent aller Native Americans schwere Trinker sind (siehe Seite 52).21 Kombiniert mit der oben genannten Abstinenzrate von 48 Prozent blieben bloße 12 Prozent übrig, die Alkohol moderat nutzen. Unabhängig davon, welche Raten an Abstinenz, gemäßigtem und exzessivem Trinken die indianische Gesamtbevölkerung aufweist, dürfen die extremen Unterschiede von Stamm zu Stamm und von Reservat zu Reservat nicht außer acht gelassen werden.
Demnach dürfte die Überschrift dieses Kapitels eigentlich nicht "Ein indianischer Trinkstil" heißen, sondern sie müßte auf "Der meistbeobachtete Trinkstil der trinkenden Minorität" lauten. Da sich aber Abstinenz und moderater (d.h. in den meisten Fällen "familiärer") Nutzen schlecht öffentlich beobachten lassen, ist der sogenannte binge style zum Sinnbild des indianischen Trinkverhaltens geworden.22 Dieses öffentlich sichtbare Gebaren unterscheidet sich deutlich von weißen Normen. Das Ziel beim geselligen Trinken in der Mainstream-Gesellschaft ist es "to hold one's liquor like a gentleman", d.h. durch Selbstdisziplin die Kontrolle über die eigenen körperlichen und geistigen Funktionen insofern zu wahren, als daß man nicht unangenehm auffällt (Wax 152f). Man weist zwar stolz auf die Anzahl der vertilgten Flaschen, Dosen oder Gläser hin, aber immer mit Hinweis auf die eigene Fähigkeit, der Wirkung standzuhalten. Der Geschmack des Alkohols und milde Formen von Intoxikation sind vorrangig. Binge drinking steht im scharfen Kontrast dazu, was jedoch nicht heißen soll, daß es nicht auch gesellschaftlichen Normen unterläge. Mail und MacDonald beschreiben binge drinking als "patterned by rules which are sufficiently elaborated to suggest the status of ritual" (37f). Wer, warum, wie, wie lange, wie viel, wie oft, wo und bei welcher Gelegenheit: Bei all diesen Fragen stößt man in unzähligen Studien auf erstaunlich gleiche Antworten. Bezüglich der Wer-Frage wird immer wieder auf ein age differential und sex differential hingewiesen. Es sind vorwiegend junge Männer bis 35 Jahre, die exzessiv trinken. Trotz der bereits in der Einleitung erwähnten Zunahme an weiblichen Alkoholkonsumenten stellen die Männer immer noch eine Mehrheit von drei Vierteln dar. Getrunken wird in sogenannten peer clusters, also Gruppen von Gleichaltrigen (siehe May, "Epidemiology" 127f / Mail & MacDonald 13). Auch bei der Frage nach dem Zweck des Trinkens sind sich die Forschenden einig: Es wird bis zum schweren Rausch, wenn möglich bis zur Besinnungslosigkeit konsumiert (siehe Hamer & Steinbring 291 / Baker 199f / Wax 152f / Horton 260 / Levy & Kunitz 75ff / 125 / 140 / Maynard & Twiss 161). Passing out ist das erklärte Ziel. Diese Absicht verfolgten schon Indianer im heutigen Staate New York im Jahr 1669, wie sich an folgender Äußerung eines Zeitgenossen erkennen läßt:
[They] are great lovers of strong drink, yet they do not care for drinking unless they have enough to make themselves drunk; and if there be so many in their company that there is not sufficient to make them all drunk, they usually select so many out of their company, proportionable to the quantity of drink, and the rest must be spectators. And if any one chance to be drunk before he hath finished his proportion (which is ordinarily a quart of brandy, rum or strong waters) the rest will pour the rest of his part down his throat. (zitiert in Barr 6f)
Beim Trinkritual lassen sich auch verschiedene Handlungsmuster erkennen. Getrunken wird aus einer Flasche oder einer Tasse, die jeweils herumgereicht wird. Sie muß in großen Zügen (gulping) und möglichst rasch gelehrt werden (siehe Van Stone 35 / Lemert 50 / Levy & Kunitz 75ff / 125 / 140). Auf diese Weise werden ungeheure Mengen an Alkohol konsumiert, mindestens jedoch im Durchschnitt fünf Drinks pro Session (siehe May, "Epidemiology" 127 / Beauvais 254f). Es wird solange getrunken, bis einer von vier möglichen Fällen eintritt. Entweder ist (1) der Vorrat an Alkohol erschöpft, gehen (2) die finanziellen Ressourcen zur Neige, ist (3) die Suche nach weiteren Alkoholquellen vergeblich, oder (4) man wird ohnmächtig (siehe Hamer 113ff / Van Stone 35f / Westermeyer 112 / Baker 199f). Dieses Muster läßt sich auf den traditionellen Schmaus (feast oder potlatch) der Vergangenheit zurückführen, bei dem aus Gründen der mangelnden Haltbarkeit von Nahrungsmitteln, der Mobilität mancher Nomadenstämme oder der allgemeinen Nahrungsmittelknappheit alle Speisen sofort nach Erhalt vertilgt wurden - ein Vorgang, den John Hamer und Jack Steinbring in ihrer Aufsatzsammlung Alcohol and Native Peoples of the North als "total consumption" bezeichnen (13).23 Sollten die alkoholischen und finanziellen Reserven bereits vor Eintritt des Rausches oder der Bewußtlosigkeit vollständig abgebaut sein, so beginnt eine bisweilen verzweifelte Suche nach neuen Quellen. James Van Stone erwähnt in seiner Studie "Drinking at Snowdrift" Vorfälle, in denen Indianer zu Ersatzstoffen wie Vanilleextrakt, Parfum oder Listerine greifen oder aber dem selbstgebrauten Getränk nicht die Zeit geben, den chemischen Prozeß zu vollenden (siehe Seiten 32f). Hamer beschreibt Indianer, die bewußt mit dem Stereotyp des armen Indianers, der Schwierigkeiten hat, seine Kinder zu ernähren, kokettieren, um so bei Weißen Mitleid zu erregen und sie zu einer finanziellen Gabe zu animieren, die letztendlich dem Kauf von weiterem Alkohol dient (siehe Seite 113). Die Trinkepisoden können sich über mehrere Tage hinziehen. Allerdings sind sie durch Tage oder Wochen der Abstinenz voneinander getrennt, in denen das Leben in relativ geregelten Bahnen weiterläuft (siehe Baker 199f; Westermeyer 112).
Organisatoren und Besucher von Powwows sehen sich oft mit dem Vorurteil konfrontiert, die Festlichkeiten seien großangelegte Trinkgelage. Tatsächlich wird Alkohol im Übermaß meistens nicht im häuslichen Kontext konsumiert. Öffentliche Veranstaltungen wie Powwows bieten eine Möglichkeit; jedoch bemühen sich die Veranstalter, das geltende Alkoholverbot auch strikt durchzusetzen, wenn es sein muß mit der Hilfe der örtlichen Polizei. Sie stellen also keine echte Alternative dar. Auch in den seit einiger Zeit wie Pilze aus dem Boden sprießenden Kasinos herrscht ein striktes Alkoholverbot. Getrunken wird deshalb vorwiegend an weit von der Zivilisation entfernten Orten wie einsamen Canyons, wo man nicht befürchten muß, entdeckt zu werden. In der Stadt sind die Bars und Straßen der sogenannten "skid row" die Anlaufstelle für Trinkabenteuer (siehe Stratton 50 / 59 / Schenz / May, "Epidemiology" 127f / Adams, Shonto 76 / Levy & Kunitz 75ff / 125 / 140). Es kann - muß aber nicht - einen festen Anlaß wie zum Beispiel eine Feier geben. Ein Wochenende oder ein Abend sind oftmals Anlaß genug.
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