Gert Raeithel Das amerikanische Verhältnis zu Geld
Alexander Solschenitzsyn und andere Exilanten waren froh, nach Amerika gelangt zu sein, aber ebenso verblüfft, wie sehr an ihrem Zufluchtsort Gefühle durch Geld ersetzt wurden, und wie die Monetarisierung der Gefühle dafür sorgte, dass wirtschaftliche Gleichstellung die Voraussetzung für Freundschaften war. Europäer sprachen seit jeher ein hartes Urteil über den amerikanischen Umgang mit Geld. Frances Trollope nahm nur Menschen auf der Jagd nach dem Dollar wahr. Nikolaus Lenau verzweifelte an der Aufgabe, diesen "himmelanstinkenden Krämerseelen" beizubringen, daß es noch höhere Dinge gebe als die im Münzhaus geschlagen werden." Über die zwanzigkarätige Verschwendung beschwerte sich H.G. Wells, und die Sozialistin Beatrice Webb unterstellte den Amerikanern pekuniäres Selbstinteresse als einzigen Wert.
Doch gab es unter europäischen Beobachtern einige, denen aufgefallen war, dass es sich um nackten Materialismus nicht handelte. Wolfgang Koeppen hörte aus der Art, wie das Wort "Dollar" ausgesprochen wurde, egal ob von arm oder reich, etwas Andächtiges heraus. G.K. Chesterton wurde noch deutlicher: Die Dollaranbetung hat etwas Spirituelles. Schaut man sich amerikanische Bankgebäude an, ist man versucht, ihnen beizupflichten: sie sehen aus wie griechische Tempel. In seinem größten Roman setzte William Gaddis nicht zufällig Wall Street mit Walhalla gleich. Wladimir Majakowski entdeckte an der Dollarverehrung etwas Romantisches: "Ich bin davon überzeugt, daß der Amerikaner außer der Kaufkraft des Dollars auch seine grüne Farbe schätzt, die ihn an den Frühling gemahnt, und das Bild im Oval als Sinnbild seiner Zufriedenheit". Amerikanische Schriftsteller, sofern sie sich überhaupt mit den Greenbacks befassten, haben sich in ähnlicher Richtung geäußert. Für William Dean Howells war Geld "the romance, the poetry of our age". Den Schriftstellern nach ihm fiel nicht viel Neues zum Thema ein. "Money is a kind of poetry", heißt es bei Wallace Stevens.
I
Zur Kolonialzeit entsprachen sechs Muscheln dem Wert von einem Penny. Biberpelze standen höher im Kurs. Im Süden eignete sich Tabak als Währung und hatte länger Bestand als der Goldstandard. War die "Geldmenge" zu begrenzen, reduzierte man den Anbau. In South Carolina nahm man Reis. Das Papiergeld ist kolonialen Ursprungs. Die Obrigkeit bezahlte damit ihre Söldner und beglich Kriegsschulden. Ein glühender Verfechter der Papierwährung ist Benjamin Franklin gewesen, der erste Yankee. Ihm gehörten die Maschinen, auf denen es gedruckt wurde. Daß London sich gegen die Papiergeldinflation wehrte, war für die Kolonisten ein Grund mehr, sich vom Mutterland loszusagen.
Nach der Unabhängigkeit durfte die neue Regierung kein Geld drucken. Das überließ sie den Banken. Bis zum Bürgerkrieg waren Noten von 8000 verschiedenen Banken in Umlauf. Wer aus Neuengland in den Tiefen Süden reiste, mußte mehrfach sein Geld wechseln. Nicht jede Bank war am Tauschgeschäft interessiert. Die Wildcat Banks operierten mit Vorsatz in dermaßen entlegenen Gegenden, daß nur eine Wildkatze dort hinfand. Die Vielzahl der Geldscheine lud zu Fälschungen ein. Der Counterfeit Detector, ein Nachschlagewerk, war Pflichtlektüre für jeden, der mit Dollars zu tun hatte. Das Wort Dollar leitet sich vom Joachimsthaler her, jenem Geldstück, daß in der Silbermine im böhmischen St. Joachim geschlagen wurde.
Die Dollarnoten zieren lateinische und fromme Sprüche. Annuit coeptis - das heißt "ER hat unsere Unternehmungen gesegnet". Die Zentralregierung in Washington holte sich nach dem Bürgerkrieg die Währungshoheit. Aber Geld wird auch in anderen Städten gedruckt. Der Kenner sieht, ob eine Dollarnote aus St.Louis, Minneapolis oder Kansas City stammt. Die Lebensdauer von Dollarscheinen ist vergleichsweise kurz. Eine Five Dollar Bill wird nach knapp zwei Jahren und 300 Transaktionen eine Beute des Reißwolfs.
Geld ist als Maßeinheit nach wie vor unentbehrlich. Dagegen nimmt seine Bedeutung als Tauschmittel ab und als Wertrücklage kommt es nach und nach ganz außer Gebrauch. Der Weg des Geldes führt von der Ware über das Symbol bis zur vorhersehbaren Entmaterialisierung. Die sukzessive Entstofflichung unserer Zahlungsmittel läßt sich nachzeichnen von weißen und schwarzen Muscheln oder geschürften Kaurischnecken über Hirschfelle (buckskins - bucks) und Stockfisch zum Silberdollar, zum Greenback, zur Kreditkarte und schließlich zu elektronischen Impulsen im E-, M- oder S-Commerce. Die alte Gürtelschnur mit Schnecken und Muscheln ist Nostalgie. Wampum nennen Pequots die Spielchips in ihrem Kasinos.
II
John Kenneth Galbraith legte sich folgende Definition von Geld zurecht: "What is commonly offered or received for the purchase or sale of goods, services or other things. [1] Diese kulturneutrale Definition bedarf der Ergänzung. Nach amerikanischer Auffassung ist Geld nicht so abstrakt oder gleichmacherisch zu sehen wie Max Weber, Georg Simmel oder Karl Marx wähnten. Geld unterliegt einer sozialen Ausdifferenzierung, es wird mit Attributen belegt, bestimmte Geldsummen werden für bestimmte Zwecke bereit gehalten. Sogar der elektronische Zahlungverkehr kennt spezielle Konten für Weihnachten oder Hannukah.2
Status hat mit Geld zu tun. Aber während Geld der französischen Bourgeoisie dazu dient, ihren Status zu halten, geht es Amerikanern darum, den Status zu verbessern.3 Die alte Benimm-Regel "Über Geld spricht man nicht" hat in den USA ihre Gültigkeit verloren. Europäer und Asiaten denken eher merkantil. Für sie ist Geld eine endliche Materie. Was man bei A hinzufügt, muß man bei B wegnehmen. "Americans take a more transcendental view", schrieb Lewis Lapham.4 Für sie ist Geld eine Substanz, die sich endlos ausdehnen kann. Wie ein Gas.
Nach der Amerikanischen Revolution wurde neben anderen mittelalterlichen Relikten auch der Fideikommiß abgeschafft. Bis dahin erbte das Land den Menschen, jetzt ging es umgekehrt. Bewegung kam ins Spiel, Besitz wurde mobiler. Madison schrieb im Federalist XXX, Geld halte den politischen Körper am Leben und in Bewegung. Einer der jüngsten - und klügsten - ausländischen Beobachter war täglich aufs Neue überrascht, welch flüchtige Natur Besitz in den Vereinigten Staaten hat.5 Kauf, Verkauf und erneute Beleihung werden in hohem Tempo abgewickelt. Geld darf in Amerika nicht eingesperrt werden. Japaner sparen 18 Prozent ihres verfügbaren Haushaltseinkommens, Deutsche 13 Prozent. Die Sparquote in den USA liegt bei 8 Prozent oder darunter.
Täglich werden global 1,5 Billionen Währungseinheiten bewegt, ein Fünftel davon in U.S.-Dollars. Wer an diesem Geschäft teilhaben möchte, muß sich bewegen - "you have to go after the money" - muß geographisch und geistig mobil sein. In einer Gesellschaft, die den Mythos der Chancengleichheit pflegt, herrscht ewige Unzufriedenheit. Genug ist nicht genug, dafür sorgt schon die Werbeindustrie. Der eigene Erfolg muß stets aufs neue transzendiert werden, und Geld ist ein hervorragendes Mittel dazu.
Es gibt die verschiedensten Stile, mit Geld umzugehen. Der Stil der "Enthusiasten" entspricht am genauesten dem amerikanischen Credo. Zu den Enthusiasten gehört der Jock, der Geld wettbewerbsmäßig heranschafft; der Hustler, der auf sich selbst gestellt sein Vermögen bildet; der Ikarus, der auf der Suche nach Geld so nah an die Sonne heranfliegt, daß er sich die Flügel verbrennt und abstürzt.6 Geld soll im großen Stil erworben und wieder ausgegeben werden. Andrew Carnegie streute in seinem philanthropischen Wahn Bibliotheksgebäude aus "wie wilder Hafer".7 Die Werbung verschlingt Milliarden. Die Firma Procter & Gamble gab Millionenbeträge zur Erforschung des Problems aus, wo in einer Anzeige der Coupon zum Ausschneiden am günstigsten zu platzieren sei. Der Herausgeber einer Pornozeitschrift setzte eine Million Dollar für Indiskretionen über Prominente aus; es meldeten sich über 2000 Informanten.
Die Weltgeschichte zeige, behauptete ein historisch nicht übermäßig bewanderter Präsidentschaftskandidat, daß die Gesetzlosigkeit zunimmt, sobald der Einkommenssteuersatz die 25%-Marke erreicht. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums herrscht die Überzeugung vor, daß soziale Unruhen dann entstehen, wenn die Reichsten sich weigern, ihren Anteil fürs Gemeinwohl zu entrichten. Selbst wenn man das Existenzminimum tief ansetzt, gibt es in den USA 35 Millionen Bedürftige - das entspricht der Einwohnerschaft Spaniens. Eine Grundregel des Yankeetums, die von Benjamin Franklin aufgestellte Gleichung time is money, gilt für Amerikas Arme nicht, ebensowenig für Arbeitslose oder Gefängnisinsassen. Eher könnte man sagen, money is time, das heißt der Vermögende kann Zeit gewinnen, indem er sich die Dienste anderer kauft.8 Die USA sind, gemessen am Bruttosozialprodukt pro Kopf, hinter der Schweiz, Japan, Norwegen, Dänemark und Deutschland das sechstreichste Land der Welt. Führend sind die USA beim Abstand zwischen dem reichsten und dem ärmsten Bevölkerungsanteil, und der Graben wird breiter. Das ärmste Fünftel bezieht weniger als vier Prozent des Gesamteinkommens. Der Chef verdient 200 x so viel wie der Angestellte. Das Gehalt der Vorstandsvorsitzenden der Disney Corporation ist 30 000 mal höher als das einer Familie an der Armutsgrenze. Um eine Rechtfertigung für abnorm hohe Spitzengehälter sind die Firmen nicht verlegen. Man muß der Konkurrenz und der Börse zeigen, dass es dem Betrieb gut geht. Unterschwellig spielt wohl auch die Überlegung mit, dass nur hohe Gehälter high-end shopping ermöglichen.
Mit den Beträgen hat sich die Herkunft des verdienten Geldes geändert. Bill Gates, der reichste Amerikaner, ist nicht so reich, weil sein Produkt so viel Umsatz macht, sondern weil die Aktien von Microsoft so hoch gehandelt werden. Seitdem angelegtes Geld mehr einbringt als der Verdienst aus Arbeit (1982), ist eine Rentier- und Investorenelite entstanden, mit der selbst gutverdienende Ärzte und die meisten Rechtsanwälte nicht mithalten können. Jeder Versuch, mehr Steuergerechtigkeit zwischen armen und reichen Gemeinden herzustellen, stößt auf Widerstand und den Vorwurf, dem Marxismus zu huldigen. Der Bestsellerautor John Irving ist der Ansicht, es gebe eine ungeschützte Minderheit in den USA und das seien "rich people". Zu der Kluft zwischen den Klassen gesellt sich die Kluft zwischen den Generationen. Dort haben sich seit 1970 die Proportionen umgekehrt. Das Nettoeinkommen der 70jährigen liegt heute weit über dem der 30jährigen.
Die Theorie des sozialen Ausgleichs von John Rawls ist zur Zeit praktisch ohne Geltung. Robert Nozick und andere Verteidiger des Systems glauben, dass "justice as fairness" eben gerade das Gegenteil bewirkt: Ungerechtigkeit.
III
Schulden sind ein soziales und ideologisches Konstrukt. Noam Chomsky ist sich in diesem Punkt mit Peter Sloterdijk einig. In Amerika repräsentieren Schulden Freiheit und Optimismus, in den Entwicklungsländern Rückständigkeit und Ineffizienz. Die von Amerikanern privat geborgte Summe geht in die Billionen. Sherman McCoy, der mit seinem Jahresgehalt von 980 000 Dollar nicht auskommt, ihn gibt es nicht nur in der Romanliteratur. Es ist, wie die Bäuerin auf dem Schaufensterbummel durch die Münchner Maximilianstrasse erkannte: "Die reichen Leut' brauchen schon ein Geld." Ein Angehöriger der Wirtschaftselite zahlt seinen Klubs Jahresbeiträge, von denen ein Normalverbraucher zwei Monate leben könnte. Wer sich im westlichen Kulturkreis dem Schuldenmachen verschließt, muß sich auf eine Aussenseiterrolle vorbereiten. Ein Medizinstudent weigerte sich aus persönlicher Überzeugung, sein Studium mit einem Stipendium zu Ende zu bringen. Er mußte das Studium abbrechen, versackte und nahm schließlich psychotherapeutische Hilfe in Anspruch. Der Psychologe bescheinigte ihm ein "ungesundes" Verhältnis zu Geld: "This kind of refusal to get into debt is the wrong ethic for our culture."9 Dass Amerikaner es verstehen, mit Schulden kreativ umzugehen, beweisen nebenbei gesagt die Fulbright-Stipendien. Nicht konvertierbare Schulden des Auslands wurden mit einem beachtlichen Imagegewinn in Stipendien umgewandelt.
Nicht vom Sparen, vom großzügigen Geldausgeben wird man reich, heißt es in The Financier (1912) von Theodore Dreiser, der eine Menge vom Geld verstand. Der spekulative Instinkt hat sich in den USA kräftig entwickelt, weshalb die Börsenkräche oder financial panics dort immer katastrophaler ausgefallen sind als etwa in Frankreich oder in Grossbritannien. Das liegt laut Galbraith daran, dass die Amerikaner in Gelddingen "the most reckless and experimental prone of people" sind.10 Wer die Chance erhält, an der Börse sein killing zu machen, ergreift sie auch. Groß ist der Anreiz, nicht selbst, sondern sein Geld arbeiten zu lassen. Hören wir einem Börsianer am Autotelefon zu:
We sleep, you and I, right? But money never sleeps, man. I play golf on the weekend, the money's still working its ass off. Work work work.11
Franklin Roosevelt hatte sich im Wahlkampf von 1936 gegen die Macht von "organized money" ausgesprochen und damit Finanzmonopolisten, Spekulanten, Kriegsgewinnler und verantwortungslose Bankiers gemeint. Schon vor ihm war Henry Ford mit den Spekulanten ins Gericht gegangen. In seiner Autobiographie My Life and Work (1922) steht: "Business is merely work. Speculation in things already produced - that is not business." Diese Ansicht liegt heute auf dem Schutthaufen der Wirtschaftsgeschichte. Die Spekulation ist wichtiger als das Produkt geworden. Mit Waren handelt einer höchstens noch am Anfang seiner Karriere. Das Finanzgenie in William Gaddis' JR (1975) hat klein angefangen und seine Grundbegabung unter Beweis gestellt, indem er der Air Force viereinhalb Millionen alte Picknickgabeln ab- und der Army mit Gewinn weiterverkaufte. Sein Reichtum beruht auf toten, wertlosen Objekten. Er kauft bankrotte Geldinstitute, Schweinebäuche, chinesische Pullover mit Webfehlern und Pflegeheime, die eng mit Bestattungsunternehmen zusammenarbeiten.
Die Nischen des Weltmarkts werden in einem Umfang und in einem Tempo nach Profiten abgesucht, wie es dem elektronischen Zeitalter entspricht. Die Spekulation läuft der bloßen Investition den Rang ab. Mitunter scheint die Finanzabteilung einer Firma mehr Gewicht zu haben als die Produktionsabteilung. Vielleicht läuft die Ford Credit Corporation der Ford Motor Company bald den Rang ab.
Aktienkurse spiegeln die wirtschaftliche Realität nur noch in einem vagen Sinn. Viele durchschnittliche Anleger wissen überhaupt nicht mehr, in welche Unternehmungen sie ihr Geld investiert haben oder können es zumindest nicht beschreiben.12 Das Geld hat sich von realen Vorgängen gelöst. Geld wird gegen Geld getauscht. Mag man es Optionen, swaps oder futures nennen, man handelt im Grunde mit nichts.13 Galbraiths oben zitierte Definition erweist sich als zu hausbacken.
Dass Geld mehr einbringt als Arbeit halten konservative Beobachter für eine Katastrophe. Immer größere Summen werden der Besteuerung entzogen. Darf es auf dem Geldmarkt zugehen wie in einem Spielkasino? Der Handel mit Derivaten verteilt das Einsatzrisiko auf den Weltmärkten. Nick Leeson ruinierte damit die Baring Bank. Hedge funds sind Derivate in Potenz. Das Risiko ist angeblich so weit gestreut, dass man nie verlieren kann. Robert Merton von Harvard und Myron Scholes aus Stanford erhielten als Erfinder der Hedge funds 1997 den Nobelpreis für Wirtschaft. Kurz darauf brachen die ostasiatischen Märkte zusammen. Die Yale University hatte es nicht bei der Theorie belassen, sondern sich auf Bermuda an einem Hedge fund beteiligt; sie verlor einen Milliardenbetrag. Der Schatzmeister des Orange County in Kalifornien verspekulierte ebenfalls mehr als eine Milliarde. Der Bezirk mußte Bankrott anmelden. Insgesamt hat es 1999 in den USA mehr Pleiten gegeben als je zuvor, deshalb muß die Einschätzung von einem seit sieben Jahren andauernden Wirtschaftboom mit Zurückhaltung betrachtet werden.
Die kalifornische Hauptstadt Sacramento sucht ihre Haushaltslage zu verbessern, indem sie das Gemeinwesen in einzelne Geschäftsbereiche aufteilt und an Sponsoren verkauft. Ähnlich den Olympischen Spielen wird es dann in Sacramento einen offiziellen Ausrüster für Leihwagen, Eiskrem oder Computer geben. Andere Produkte werden nicht mehr hereingelassen. So viel zur freien Marktwirtschaft. Die Gesetze des freien Marktes, urteilte Chomsky, mögen für "Zentralafrika und ledige Mütter" gelten, nicht aber für dominante Großunternehmen. Wie schwachen Volkswirtschaften währungspolitisch zu helfen sei, ist umstritten. Manche empfehlen den Anschluss an eine der starken internationalen Währungen, andere raten von einer Dollarisierung gerade ab. Wie sich das Verhältnis zwischen Dollar und Euro entwickeln wird, ist ebenfalls unklar. In der Zeitschrift Foreign Affairs wurde die Befürchtung geäussert, ein starker Euro könne die amerikanische Hegemonie gefährden. Andere bezweifeln dies. Eine dritte Fraktion ist der Ansicht, nicht Staaten sondern Städte würden bereits jetzt und stärker in Zukunft das Währungs- und Wirtschaftsgeschehen diktieren, namentlich London, New York und Tokio mit schwächeren Chancen für Paris und Frankfurt. Doch sind derlei Prognosen nicht viel Wert. Ein Ökonom von der London School of Economics kam 1997 mit einem Buch über The Coming Russian Boom heraus. Ein halbes Jahr später brach die russische Wirtschaft zusammen.
IV
Die Politik benennt ihre Gelder nach eigenen Bedürfnissen. Early money sind die Spenden, die zu einem sehr frühen Zeitpunkt im Wahlkampf eingegangen sind. George Bush jr. hatte ein Jahr vor der Wahl schon 57 Millionen Dollar beisammen, was andere Kandidaten frustriert den Rückzug antreten ließ. Soft money sind Spenden, die nicht direkt für einen Kandidaten gedacht sind, sondern für die Parteienarbeit und andere staatsbürgerliche Zwecke. Obergrenzen entfallen, wenn "vote for" nicht vorkommt, ansonsten ist die Unterscheidung von hard money problematisch. Soft money ist die Stärke der Demokraten, die Republikaner sind beim hard money überlegen. Unklar ist, zu welcher Kategorie das Honorar zählt, das ein Präsident für ein privates Foto mit ihm verlangt, bei George Bush im Wahlkampf von 1992 immerhin 92.000 Dollar. Der Economist vermutet, es würde ein direkter Weg vom hard money über soft money in die Korruption führen. Politische Korruption sollte nach Watergate per Gesetz eingedämmt werden, doch haben die Volksvertreter mit den neuen Bestimmungen auch neue Schlupflöcher gefunden. Auf Capitol Hill kursiert der Scherz: "I'm a man of principle. Once I'm bought, I stay bought."
In Wachstumsbranchen der Wirtschaft spricht man vom silly money. Der Chef einer Plattenfirma sagte "there's silly money in music." Viel weiter unten an der Pyramide werden die migradollars verdient, der Lohnanteil, den Mexikaner aus den USA nach Hause schicken. Schaut man sich die biographischen Bekenntnisse reicher Amerikaner näher an, so haben viele mit Erfolg Millionen gescheffelt, um hinterher das einfache Leben zu preisen.14
Die Schattenwirtschaft macht bis zu 15 Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts aus. Berufsmäßige Geldwäscher ziehen von Bank zu Bank und tauschen pfundweise kleine Scheine - zum Beispiel aus dem Ameisenhandel mit Drogen - gegen unverdächtige Banknoten ein. In Florida zählt die Drogenmafia ihre Milliarden mit Hochgeschwindigkeitsmaschinen oder wiegt die Bündel einfach ab. Schwarzgeld wird dort deponiert, wo man das Bankgeheimnis zu achten weiß, auf den Cayman Inseln, auf Vanuatu, in der Schweiz und an vielen anderen Orten der Welt.
Ein white collar criminal sackt im Schnitt tausendmal so viel ein wie ein Strassenräuber. Das momentane Verhältnis liegt bei 300 000 zu 338 Dollar. Der größte Betrug der letzten Generation war eindeutig der Savings & Loan-Skandal. Die Betrüger verspekulierten Spareinlagen, um hernach die staatliche Einlagenversicherung - bis zu 100 000 Dollar - zu bemühen. Die Rädelsführer hatten gesetzliche Bestimmungen als Herausforderung an ihre Cleverness betrachtet: Wie kann man sie umgehen? Der angerichtete Schaden bei diesem einen Großbetrug beläuft sich nach Schätzungen auf 500 Milliarden Dollar. Das ist in etwa die Dimension der 1999 weltweit durch Naturkatastrophen verursachten Schäden.
Zu den zahlreichen Subkulturen hat sich die Kultur des Steuerbetrugs gesellt (culture of tax cheating). Zur Not lässt sich die Erklärung heranziehen, die USA verdankten ihre Existenz dem Protest gegen als zu hoch empfundene Steuern. Stichhaltiger ist, dass es zum Wesen des gesamten Systems gehört, mit falschen Zahlen zu operieren. Ein ehemaliger Chef des Office of Management and Budget (OMB) hat nach seinem Rücktritt erläutert, wie Wirtschaftsprognosen ausgehandelt werden: verzichtest du auf 1/10 Prozent realen Wachstums, verzichte ich auf 1/10 Prozent des monetären Bruttosozialprodukts. Oder: Wenn du deine Wachstumsrate etwas höher ansetzt, dann lasse ich über meine Inflationsrate mit mir reden. Auf der kommunalen Ebene werden Verbrechensstatistiken nach unten manipuliert, um das Investitionsklima zu verbessern.
Der Turbokapitalismus braucht zu seiner Rechtfertigung falsche Angaben. Der gegenwärtige Boom ist nur indirekt auf wirtschaftliche und technologische Stärken zurückzuführen. Nur drei Prozent der Erwerbstätigen arbeiten in der Informationstechnologie. Die "neugeschaffenen" Arbeitsplätze haben damit zu tun, dass sich die Besserverdienenden wieder Personal leisten können: Gärtner, Chauffeure, Doormen und andere Dienstleistende, die eher eine Refeudalisierung signalisieren als eine Besserstellung aller. Die Rechte der Durchschnittsverdiener werden geschwächt. Das transnationale Kapital braucht die soziale Partnerschaft nicht mehr. Stellenstreichungen bringen Shareholder-Value. Als bekannt wurde, dass die Löhne nur um 0,2 Prozent gestiegen waren, schnellte der Aktienkurs in die Höhe. Soziale Kosmetik kann an dieser Situation nichts ändern. Die Kaffeekettenläden von Starbucks gebärden sich individualistisch und ökologisch, doch ist dieser cappuccino capitalism als unwahre Alternative durchschaut worden. Bei der WTO-Konferenz in Seattle (1999) sind in die Starbucks-Geschäfte Steine geflogen.
Die Städte müssen wegen unversteuerter Verkäufe im Internet einen Steuerrückgang hinnehmen. Eine Steuer auf elektronische Geldtransfers ist in der Diskussion. Dies würde zum Beispiel rein spekulative Devisengeschäfte eindämmen. Doch haben sich die Regierungen seit den 1970er Jahren bei der Regulierung der Märkte und damit auch der elektronischen Märkte zurückgenommen. Die Deregulation nahm ihren Anfang mit der Aufgabe des Goldstandards, führte zu Haushalts- und Handelsdefiziten, zu buy-outs, junk-bonds und einer enthemmten Kreditvergabe. Heute steht der Staat dem globalen Kannibalismus der Großunternehmen untereinander ziemlich machtlos vis-à-vis. Im Netz zeigen sich Anzeichen von Selbstjustiz. Hacker bestrafen Firmen, die sich mißliebig gemacht haben, belagern ihre Websites um einen Aktienkurs zu drücken.
Eine Weltwirtschaft ohne Weltregierung sucht sich ihre Rentabilität auf ihre Weise. Lohnkosten werden in immer noch billigere Länder verlegt: der Ingenieur in St. Petersburg, der für 200 Dollar Monatsgehalt ein amerikanisches Bauunternehmen bedient; der Programmierer in Indien, der nur einen Bruchteil dessen verlangt, was der amerikanische Kollege verlangen würde; der chinesische Flugzeugbauer, der von Boeing monatlich 50 Dollar erhält. Die Arbeitskosten für ein Paar Nike-Schuhe liegen in Indonesien bei 12 Cents. Verkaufspreis in den USA: 80 Dollar. Das System bringt an diesem Punkt gerne die Theorie vom freien Markt ins Spiel. Doch diese Theorie, erkannte Edward Luttwak, "kollidiert mit der Lebenswirklichkeit Tausender Gruppen". Luttwak steht nicht an, von einem bolschewistischen Ansatz zu sprechen, weil auf Druck der Amerikaner die Deregulierung auf Europa ausgedehnt und "das ökonomische Effizienzmodell der gesamten Welt mit extrem unterschiedlichen Sozialsystemen übergestülpt werden" soll.15
V
Von Sparta über die utopischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts bis zu den kambodschanischen Maoisten hat es Versuche gegeben, Geld abzuschaffen. Das Local Exchange Trading System in British Columbia tauscht bargeldlos Leistungen aus. Ähnliche Tauschringe findet man in Berlin-Kreuzberg. In der Universitätsstadt Ithaca (NY) drucken Bürger ihr eigenes Geld ("In each other we trust") um es in der Gemeinde zu halten und nicht an die großen Shopping Malls zu verlieren. Aber das Alternativgeld hat es schwer, weil die Attraktivität der Einkaufszentren hoch ist. Auf der Mall of America in Minneapolis wird Erlebnis-Shopping geboten. Die Darbietungen à la Disney sind so gefragt, daß die Kunden einen Aufpreis von 20 Prozent auf die Waren hinnehmen. Psychologen sprechen dem Geld eine Transformationskraft zu. Wie anders wäre zu erklären, daß Gemütsdepressionen vergehen, wenn man Geld ausgibt? Außerdem werden Kinder früh ans Geldausgeben herangeführt. In den Rechenbeispielen eines Lehrbuches bei McGraw-Hill werden auch gleich die richtigen Markennamen genannt ("Willi spart sein Taschengeld, um sich ein Paar Nike-Schuhe für $ 68,25 zu kaufen. Er kriegt 3.25 pro Woche. Wie viele Wochen muß er sparen?")
Eine vage Hoffnung richtet sich auf Frauen, die mehr und mehr ins Wirtschaftsleben integriert werden. Frauen sind durch Geld weniger zu motivieren als Männer. Degradierende Arbeit nehmen sie nicht allein schon deswegen an, weil der Lohn angehoben wird.16 Anlagebetrüger sind zu fast 100 Prozent Männer.
Von kirchlicher Seite wird versucht, neoliberalen Räubern Fesseln anzulegen. Eine interkonfessionelle Organisation bringt bei Firmen Dutzende von Resolutionen ein mit dem Ziel, bessere Arbeitsbedingungen zu erwirken und eine humanere Firmenpolitik auch im Ausland zu betreiben. Andere Gruppierungen wollen Einfluß auf dem philantropischen Sektor gewinnen. Wo landen die Firmengelder für Wohltätigkeit? Soll dies ein Prärogativ der Geschäftsleitung bleiben? Shareholder-Aktivisten wollen Unternehmen dazu bringen, sozial- und umweltverträglich zu produzieren. Sie raten vom Kauf bestimmter Aktien ab oder bringen bei Aktionärsversammlungen Resolutionen ein, die zumindest aufschiebende Wirkung haben. Besitzer von Reklametafeln werden überredet, keine Tabakreklame mehr anzunehmen. Investoren sehen unter dem Druck dieser Aktivisten davon ab, in Projekte zu investieren, die die Everglades zerstören würden.17 All diese Unterfangen zielen darauf ab, die Macht des Dollar zu brechen. Monsanto wurde mit seiner genmanipulierten Nahrung in die Knie gezwungen.
Peter Sloterdijk rät dazu, "den spekulativen Faktor im heutigen Wirtschaftsleben auf ein vernünftiges Maß zurückzuführen".18 Doch lässt sich mit Appellen auf diesem Gebiet wenig ausrichten. Andere empfehlen, für bestimmte Zwecke Komplementärwährungen zuzulassen, so wie dies in Missouri, Minneapolis oder Vancouver heute schon der Fall ist.19
VI
Am phantasievollsten geht die Bildende Kunst mit Geld um. J.S.G. Boggs versucht seit Jahren, mit selbst gezeichneten Geldscheinen in Restaurants und Kaufhäusern zu bezahlen. Sein Ziel: Die Menschen sollen über den wahren Wert der Dinge nachdenken. Boggs fand seinen Meister, als ein Kellner ihm gezeichnetes Wechselgeld herausgab.
Literaturverzeichnis
- John Kenneth Galbraith, Money, Boston 1995, S. 3f. zurück
- Viviana Zelizer, The Social Meaning of Money, Princeton 1997, passim zurück
- Michèle Lamont, Money, Morals and Manners, Chicago 1992, S. 67 zurück
- Lewis Lapham, Money and Class in America, New York 1988, S. 54 zurück
- James Buchan, Frozen Desire, London 1998 zurück
- nach Edward Hallowwell bei Sheila Klebanow, ed., Money and Mind, New York 1991 zurück
- H.G. Wells, The Future in America, 1906, S. 81 zurück
- Scott Lash u. J. Urry, Economies of Sign & Space, London 1999, S. 337 zurück
- Joel Covitz bei John Beebe, ed., Money, Food, Drink and Fashion, Fellbach 1983, S. 33 zurück
- Galbraith, a.a.O., S. 136 zurück
- Aus einem Roman der 1980er Jahre, zit. in Saturday Review, Mai/Juni 1983, S. 44 zurück
- Buchan, a.a.O., S. 28 zurück
- Lash, a.a.O, S. 292 zurück
- Ted Koppel, Hrsg., Money Talks, Dearborn 1998 zurück
- Die Zeit vom 9.12.1999 zurück
- Ellen Stephens bei John DiGaetani, ed., Money: Lure, Lore and Literature, Westport 1994, Kap. 5 zurück
- Whole Earth, Frühjahr 1998 zurück
- Berliner Tagesspiegel vom 20.2.1999 zurück
- Bernard Lietaer, Das Geld der Zukunft, o.O. 1999, S. 431 zurück
|