Nina Gartz
Indianer und Alkoholmißbrauch
b.Berichte paternalistischer Weißer
Der "drunken Indian" war für viele Hobbyreformer ein gefundenes Fressen. Allerdings verwechselten sie oft ihre Sympathie mit Empathie, ihr Mitleid mit wahrem Verständnis. "Feeling sorry [...] is good, for it means that the object of our pity is at least relatively impotent and nonthreatening", so erklärt Owens das Interesse der Philanthropen an den Indianern (77). Ein Reformer wider Willen allerdings war John Tanner. Er verbrachte - beginnend im späten 18. Jahrhundert - 30 Jahre in der Gefangenschaft der Indianer. Seine Assimilation ging allerdings soweit, daß er nacheinander zwei Indianerinnen heiratete und mit ihnen sieben Kinder zeugte. Im Alter versuchte er, wieder in der weißen Gesellschaft Fuß zu fassen. Seine Bemühungen waren jedoch vergeblich, und er verschwand 1846 spurlos, nachdem er zuvor einige Zeit als go-between zwischen den Kulturen hin und her gependelt war.104 Die Erinnerungen an seinen Aufenthalt bei den Ojibwa hielt er zu Lebzeiten (1830) in einer Captivity Narrative fest. Die Aufzeichnungen gewähren auch Einblicke in Tanners Sicht vom Trinkverhalten der Indianer.105 Er kann von der gesamten Bandbreite der negativen Begleiterscheinungen des Alkoholkonsums berichten: Im Rausch kommt es zu unnötigem Streit und zu Gewalttaten zwischen den Stammesangehörigen. Die geringsten Provokationen sorgen für Eskalationen. Beschwichtigungsversuche führen zur Gefährdung der eigenen Sicherheit. Die Folgen reichen vom Verlust von Nasen (154f) bis hin zum Tod. Ein Mörder beruft sich auf die time out period, indem er argumentiert: "I knew not what I did [...] drunkenness made me a fool" (238f). Anscheinend hat er mit dieser Strategie Erfolg, denn er ersetzt fortan der Mutter den von ihm ermordeten Sohn. Machen bevorstehende Kriegshandlungen jedoch ein aggressives Verhalten erforderlich, sind die Ojibwa durch Alkohol außer Gefecht gesetzt und den Sioux hilflos ausgeliefert (152ff). Weitere Randerscheinungen sind im Rauschzustand zugezogene Verletzungen wie Verbrennungen (65) und ein aus Scham über durch Alkohol hervorgerufene Entgleisungen verübter Suizid (97f). Darüber hinaus scheuen die Ojibwa vor Beschaffungskriminalität nicht zurück. Alkoholdiebstahl unter ihresgleichen wird zwar geächtet (87), aber wenn Stammesmitglieder wiederholt die gesamten Nahrungsmittelvorräte für ein paar Gallonen Alkohol an die Händler abtreten und den gesamten Stamm so in Bedrängnis bringen, bleibt dies ungeahndet. Berichtet wird auch von den präventiven Bemühungen eines Propheten, Manito-o-geezhik, die aber nur kurzfristig fruchten (169). Tanner beschreibt seine zweimalige Teilnahme an den "drunken frolics" seines Adoptivstammes (61f / 86f). Seine Adoptivmutter Net-no-kwa mahnt ihn zwar zur Mäßigung; da sie aber selbst zu den stärksten Trinkerinnen gehört, wird sie von den Indianern an den Grundsatz der Nichteinmischung erinnert (87). Im Laufe der Erzählung geht Tanner trinktechnisch immer mehr auf Distanz zu seinen Stammesbrüdern: "I disliked to be with the Indians in their seasons of drunkenness" (84). Er betrachtet sie von einem paternalistischen Standpunkt aus und sieht sich selbst als Schutzpatron der Ojibwa. "[H]aving seen the extent of the mischief occasioned by the introduction of intoxicating liquors, I had become desirous of preventing it, as far as in my power, at least", so lautet sein Anspruch an sich selbst (264). Tadelt er zu Beginn noch ihre "foolishness" (153), so spricht er gegen Ende vom "inconquerable appetite" (263f) der Indianer, bedient sich damit klar beim Feuerwassermythos, der die Hoffnungslosigkeit einer Bekehrung suggeriert. Kurzzeitig wechselt er von der Rolle des Jägers in die Rolle des Händlers, der im Tausch "Pelze gegen Alkohol" den größtmöglichen Profit für die American Fur Company erzielt. Er begründet diesen inkonsequenten Schritt aber als eine Art Feldstudie über die Verführungskünste der Händler und die Abhängigkeit der Jäger und kündigt nach einem Auftrag, da er sich nicht weiter zum Werkzeug der Weißen machen will und da er Repressalien der Indianer fürchtet (263f). Er ist ständig bemüht, seine Disziplin gegenüber Weißen unter Beweis zu stellen, und verweist stolz auf seinen moderaten Gebrauch von Alkohol. "[T]he governor [Cass] had a curiosity to know whether I had acquired the same fondness the Indians usually have for intoxicating liquors, and whether, when drunk, I would behave as they did. But I had not felt the influence of the wine so much as to forget myself, or become unconscious of my situation, and I went immediately to my lodge and lay there until I was entirely sober" (241).106 In punkto Alkoholkonsum ist er also ganz Weißer. Aber auch die Indianer haben von den Händlern gelernt und sich ihre Strategien angeeignet. Net-no-kwa ersteigerte einst den jungen John Tanner durch Whiskey (15), und die Ojibwa versuchen, die feindlich gesinnten Cree ebenfalls durch Whiskey gefügig zu machen. Die Cree allerdings durchschauen den Plan, zeigen übertriebene Symptome des Rausches, während sie sich ihren nüchternen Zustand weitestgehend erhalten, um später einen Überraschungsangriff zu landen. Tanner aber antizipiert diese Wende der Ereignisse und hält seine Hände schützend über seine Stammesbrüder (115ff), wie er sie auch durch Zeiten des Hungerns hindurchfüttert, wenn sie wieder ihre Vorräte für Alkohol in Zahlung gegeben haben.
Während der Paternalist in Tanners Captivity Narrative tatsächlich handelt, wird der Paternalist in Walt Whitmans Roman Franklin Evans or The Inebriate (1842) nur verbal aktiv.107 Franklin ist eine Art männliche Sister Carrie, ein junger Mann, der dem Land den Rücken zukehrt und in der Großstadt New York dem Alkohol erliegt. Bevor er aber in der Großstadt ankommt, trifft er während der Kutschfahrt auf einen Antiquitätensammler, der sich selbst zum Sprachrohr der Indianer ernannt hat. Dieser hält Franklin einen Vortrag über den Niedergang der indianischen Rasse. "[T]he bravest warriors - the wise old chiefs - even the very women and children" verwandeln sich in seinen Worten in "hapless red men", die er in der Hierarchie der Lebewesen unterhalb des Viehs auf der Weide ansiedelt (45). Der Hauptgrund für diese Metamorphose ist die Verführung durch Feuerwasser, das Gift der Weißen. "[T]he greatest curse ever introduced among them, has been the curse of rum!" (45). Dem aussterbenden Indianer, der ungefähr denselben Stellenwert für den Altertumsforscher haben dürfte wie ein lebendes Exemplar des ausgestorbenen Mammuths, gilt nicht das Hauptaugenmerk des Buches. Sein Verfall ist lediglich eine unterhaltsame Episode für die Leser und wird im Handlungszusammenhang zur wertvollen Lektion für Franklin, der gegen Ende des Romans seine Sucht besiegt und dem Alkohol vollständig entsagt.
Wesentlich humorvoller als seine beiden Vorgänger Tanner und Whitman widmet sich Mark Twain der Alkoholproblematik unter Indianern. In "Niagara" aus der Kurzgeschichtensammlung Sketches New and Old (geschrieben ca. 1871) attackiert Twain den die berühmten Wasserfälle umgebenden Sensationstourismus. Als der Erzähler auf die am Rande der Touristenattraktion lebenden Indianer trifft, entsprechen die so gar nicht seinem aus zahlreichen Versatzstücken zusammengesetzten Idealbild vom Edlen Wilden. Er hatte auf primitive Naturmenschen mit blumiger Wortwahl und prunkvollen Kostümen gehofft. Stattdessen begegnet er zerlumpten, trinkenden und fluchenden Kreaturen, die Plunder unter dem Deckmantel indianischen Kunsthandwerks feilbieten: "Thus does the baneful contact with our effemiate civilization dilute the picturesque pomp which is so natural to the Indian when far removed from us in his native haunts" (75). Er beschwört ihnen gegenüber den bevorstehenden Untergang der indianischen Rasse herauf und mahnt sie unter seiner Führung zur Umkehr:
Trading for forty-rod whisky, to enable you to get drunk and happy and tomahawk your families, has played the everlasting mischief with the picturesque pomp of your dress, and here you are, in the broad light of the nineteenth century, gotten up like the ragtag and bobtail of the purlieus of New York. For shame! Remember your ancestors! [...] Unfurl yourselves under my banner... (77f).
Die Indianer jedoch reagieren mit Ablehnung auf diese Belehrung und stürzen den Erzähler die Niagara Fälle hinab. Diese Entwicklung, die ihn nur knapp mit dem Leben davonkommen läßt, veranlaßt ihn dazu, von seiner früheren Bemerkung "The noble Red Man has always been a friend and darling of mine" und seinen Versuchen, sich mit den Indianern zu verbrüdern, Abstand zu nehmen (74). "It is an awful savage tribe of Indians", lautet sein abschließendes Urteil (80). Der Leser, falls er es noch nicht am Dialekt der "Indianer" bemerkt hat, erfährt in den letzten Zeilen der Kurzgeschichte, daß es sich bei den degenerierten Wilden um verkleidete Iren aus Limerick handelte. Nicht zuletzt wegen dieser überraschenden Wende sieht Brigitte Georgi in "Niagara" einen ironischen Seitenhieb Twains auf die Vorurteile seiner Zeitgenossen (siehe Seiten 46f). Wer allerdings Twains wenig schmeichelhafte Darstellungen von Indianern wie Injun Joe aus den Tom Sawyer Erzählungen kennt, muß die Echtheit der Sympathiebekundung anzweifeln.
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