Nina Gartz
Indianer und Alkoholmißbrauch
E.Begleiterscheinungen
Abdel Omran prägte 1971 den Begriff epidemiologic transition und meinte damit den Übergang von krankheitsbedingten zu von Menschenhand geschaffenen Epidemien. Zur zweiten Kategorie der künstlichen Plagen gehöre demnach der Alkohol (siehe Thornton 171 / Shoemaker 35f).53 Dem Alkoholmißbrauch unter Indianern werden eine Reihe von Kollateralschäden zugeschrieben. Er soll Mortalitäts- und Morbiditätsraten ungünstig beeinflussen sowie die soziale Ordnung empfindlich gefährden und dies in einem Maße, welches das der gesamten Bevölkerung um das Zwei- bis Dreifache übertrifft (siehe May, "Epidemiology" 127). Junge, in Reservaten lebende Männer scheinen besonders gefährdet.54 Der binge style soll - durch die Betonung auf hohe Alkoholkonzentrationen im Blut - eine besonders prominente Rolle im Zusammenhang mit der hohen Sterberate spielen (siehe Hamer & Steinbring 1 / May, "Epidemiology" 127f / May, "Prevention Programs" 189). Fünf der zehn häufigsten Todesursachen werden gemeinhin auf Alkoholmißbrauch zurückgeführt: An erster Stelle stehen Unfälle (21% aller Tode), darunter Autounfälle, Haushaltsunfälle etc.; weit abgeschlagen folgt die Leberzirrhose (6%), dann andere körperliche Beeinträchtigungen, die sich auf eine Alkoholabhängigkeit zurückführen lassen (3,2%), daraufhin Selbstmord (2,9%) und schließlich Mord (2%) (siehe Young 66 / Manson 115 / May, "Prevention Programs" 188 / Mail & MacDonald 9ff / Lamarine 144). Alkohol gilt als "number 1 killer". Insgesamt 75 Prozent aller Tode sollen, wenn man alle Todesursachen betrachtet, vom Alkoholmißbrauch herrühren (siehe Baker 195 / Young 66). Die indianische Rate der durch Alkohol verursachten Sterblichkeit soll die der gesamten Nation um das Viereinhalbfache übertreffen (siehe Griffith 53f). Folglich führt man die niedrige Lebenserwartung der Indianer dann auch auf Alkohol zurück. Native Americans leben etwa acht bis zehn Jahre kürzer als der nationale Durchschnitt. In manchen Reservaten beträgt die Lebenserwartung gar nur 45 Jahre, etwa 30 Jahre weniger als für den Rest der Vereinigten Staaten. "[A]nd this in a people who, in the old days, commonly lived for a hundred years or more" (Matthiessen 427; siehe auch Churchill 7 / Krupat 30f / Bachman 6). Dabei ist man sich über den Zusammenhang zwischen der Todesursache und dem Alkohol nicht immer einig. "Alcohol-related" wird wieder und wieder unterschiedlich interpretiert: Mal als simples Nebeneinanderauftreten von Tod und Alkohol, mal als bloßer Beitrag des Alkohols zum Tod, mal als direkte Kausalität, vom Alkohol zum Tod. Auch über den Grad und die Verteilung der Intoxikation herrscht Uneinigkeit: Müssen Täter und Opfer alkoholisiert sein oder nur einer von beiden, muß man leicht angetrunken oder schwer berauscht sein, um der Tat das Etikett "alcohol-associated" anzuheften (siehe Mail & MacDonald 8)? Oft sind solche die Minorität betreffenden Definitionen auch von den Vorurteilen der definierenden Majorität geprägt, und so ist Vorsicht geboten. Viele wehren sich heute gegen die Annahme einer einseitigen Kausalität (siehe bes. Westermeyer 111ff / Barr 400).55 Die Frage "Is alcohol the cause of the problems, or is it the result of everything that these people must live with?" (Sozialarbeiter zitiert in Bachman 95), also die Frage, ob es sich bei Alkohol um ein Syndrom oder das Symptom eines Syndroms handelt, wird gegenwärtig deutlich mit Zweiterem beantwortet. Alkohol erzeugt nicht die problematischen Lebensumstände, sondern ist lediglich ein Ausdruck davon. Und selbst wenn Alkohol als Verursacher gesehen würde, ließen sich seine Wirkungen nicht von denen anderer verursachender Faktoren (sozial, kulturell, historisch, ökonomisch, politisch etc.) isolieren. Das Verhältnis ist wesentlich komplexer, als das simplifizierte Modell "A verursacht B" oder "B führt zu A" es auszudrücken vermag. Darum sollte auch nicht die Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs alleine an erster Stelle der Agenda stehen, sondern sie sollte sich diese Position mit der Beseitigung der sozialen Mißstände zumindest teilen. Hierin besteht nämlich die Gefahr, daß die Bekämpfung des Alkoholproblems andere Brennpunkte in den Hintergrund drängt.
1.Aggression und Promiskuität als Bestandteile einer Verhaltenssequenz
Schon der von 55 bis 115 n. Chr. lebende Tacitus äußerte sich in seinem Werk Germania despektierlich über die Unfähigkeit einer Volksgruppe - nämlich der Germanen -, Selbstdisziplin im Umgang mit Alkohol zu üben. Damit begründete er wohl ein Stereotyp, das eineinhalb Jahrtausende später den Indianern angeheftet werden sollte (siehe Honigmann, "Cultural Context" 30 / Hermann 99). So sind denn auch die frühen Berichte europäischer Reisender gespickt mit Aussagen über den orgienhaften Charakter indianischer Trinkanlässe. War nüchternes Verhalten noch von dem vielgepriesenen Stoizismus geprägt, so kehrte sich das Benehmen im Rausch ins Gegenteil. Freigesetzte Aggressionen, die zu leichten und schweren Verwundungen bis hin zum Tod führten, und sexuelle Freizügigkeit waren die scheinbar unabwendbare Folge. Der im späten 17. Jahrhundert in New France tätige Missionar Chrestian Le Clerq beschrieb die Geschehnisse um den Brandyhandel wie folgt:
Injuries, quarrels, homicides, murders, parricides are to this day the sad consequences of the trade in brandy; and one sees with grief Indians dying in their drunkenness: strangling themselves: the brother cutting the throat of the sister: the husband breaking the head of his wife: a mother throwing her child into the fire or the river: and fathers cruelly choking little innocent children whom they cherish and love as much as, and more than, themselves when they are not deprived of their reason. They consider it sport to break and shatter everything in the wigwams, and to brawl for hours together, repeating always the same word. They beat themselves and tear themselves to pieces, something which happens never, or at least very rarely, when they are sober. (zitiert in Horton 298f)
Die Missionare konnten nicht umhin, den Umgang der Native Americans mit Alkohol gemäß ihren eigenen moralischen Standards zu beurteilen, und die Berichte nahmen infolgedessen einen stark moralisierenden Unterton an. Außerdem sollten solch anschauliche Erzählungen die sensationslustige Leserschaft in der Heimat befriedigen und sie so für die eigene kostenintensive Mission einnehmen. Es darf deshalb angenommen werden, daß Häufigkeit und Intensität der Vorkommnisse, die oft ohne exakte Orts- und Zeitangabe überliefert wurden, übertrieben dargestellt sind. Honigmann unterstellt sogar, daß einige Autoren die Indianer selbst mit Alkohol versorgten, um das publikumsträchtige Gebaren herbeizuführen, über das sie dann schreiben würden. Es ließen sich beliebig viele weitere Darstellungen indianischen Trinkverhaltens wie die Le Clerqs anführen, die den gewaltsamen und promiskuitiven Charakter desselben bestätigen (siehe Dailey 122f / Brody 225 / Honigmann, "Cultural Context" 30 / Horton 202 / 250f). Gewaltsames und promiskuitives Verhalten war den Indianern jedoch bereits vor dem Import alkoholischer Getränke nicht fremd. Die entscheidende neue Komponente war, daß sich Aggressionen nun auch gegen Freunde und Verwandte richteten anstatt einzig und allein gegen Angehörige eines feindlich gesinnten Stammesverbandes (siehe Dailey 122f).56 Es wurde allerdings angemerkt, daß Native Americans wenn auch nicht das Trinken an sich so doch die drastischen Auswüchse zu kontrollieren versuchten. "Indeed, so sensible are they of their own infirmities". Mütter und Kinder brachten sich in Sicherheit. Frauen entwendeten und versteckten die Waffen (Messer, Tomahawks etc.) ihrer Männer, um so das Schlimmste zu verhindern. Besonders gewalttätige Exemplare wurden festgeschnürt. Angesehene Stammesmitglieder wurden auserkoren, sich ihren nüchternen Zustand zu erhalten und über die Einhaltung der Sittlichkeit ihrer Stammesbrüder zu wachen. Es wurden auch spezielle Einheiten gebildet und zum Gewaltverzicht auffordernde Ansprachen gehalten, die der Aggression und sexuellen Freizügigkeit Einhalt gebieten sollten. Oft waren solche Kontrollmaßnahmen allerdings motiviert durch Anregungen weißer Beobachter (Dailey 121ff; siehe auch Horton 253ff / Driver 110).
Aggression und Promiskuität als Folgen des Alkoholkonsums gehören anscheinend nicht der Vergangenheit an. "The popular view of the Indian drunk is well known. He is liable to excesses of any and every kind; he fights savagely for no clear reason; he destroys property - even his own - with no thought to his actions; he is sexually aggressive and liable to outlandish indulgences [...] this stereotype pervaded the attitudes of non-Indians", so lautet Brodys Kritik an der weißen Gesellschaft (224 / 227 / 247). Aber auch er kann einige Seiten später nicht umhin, die von Nüchternheit über Trunkenheit zur Gewalttätigkeit und sexuellen Freizügigkeit reichende Verhaltenssequenz auch bei den heutigen Indianern der skid row anzumerken, wenn er sie auch auf eine Verinnerlichung des Stereotyps zurückführt. Brody spielt somit auf die im Zusammenhang mit der time out period angesprochene self-fulfilling prophecy an. Etliche andere Autoren haben ebenso eine festgelegte Reihenfolge der Verhaltensmuster im Laufe des Alkoholkonsums festgestellt (siehe Hamer 117ff / Hamer & Steinbring 291f / Horton 259 / Baker 200): Im frühen Stadium werden allenfalls Geselligkeit und Kameradschaft unter den Zechkumpanen erleichtert. Die Intensität der Emotionen nimmt jedoch stetig zu, bis es zu unbedeutenden verbalen Auseinandersetzungen oder sexuellen Anspielungen kommt. Die Streitigkeiten und das aggressive Flirten werden im nächsten Schritt von echten Handgreiflichkeiten abgelöst. Das Finale ist von Bewußtlosigkeit oder zumindest vollkommener Apathie gekennzeichnet. Erlangen die Zechkumpane nach einem Rausch ihre mentale Kapazität wieder, so haben sich die Provokationen oft in Wohlgefallen aufgelöst. Das herzliche Verhältnis des ersten Stadiums ist wieder hergestellt. Das Kontinuum kann von Neuem beginnen. Brody kommentiert den ansteckenden Charakter solcher Gewalttätigkeiten, die sich von einem Tisch in der Bar wie bei einem Flächenbrand auf das gesamte Etablissement ausweiten. Allerdings scheinen die Handgreiflichkeiten selten ernsthafte Konsequenzen nach sich zu ziehen. Angriffe mit Waffen sind selten. Oft wird mit bloßen Fäusten gekämpft. Meist richtet sich die Gewalt auch eher gegen Gegenstände als gegen Personen. Individuen, die für ihre überbordende Aggression bekannt sind, werden gemieden oder abgeschirmt. Dennoch finden auch Vorkommnisse mit Todesfolge oder bleibenden Schäden Erwähnung in der Literatur.
2.Die häufigsten Todesursachen
a.Unfälle und allgemeine Verwundbarkeit
Unfälle, ob mit dem Auto oder im Haushalt, sind die häufigste Todesursache unter den Indianern. Bei drei Vierteln aller Unfalltode soll Alkohol im Spiel sein (siehe Lamarine 144 / Griffith 55 / Manson 115). Laut Mail und MacDonald sind die Unfallraten zwar seit 1955 konstant geblieben, "but then matters could hardly get worse" (9). Indianer sterben zweieinhalb- bis dreimal so oft an den Folgen von Unfällen wie dies für die gesamte Bevölkerung der Fall ist.57 Rein für Autounfälle sind die Statistiken noch beunruhigender.58 Philip May führt dies - abgesehen von dem bei den binges üblichen hohen Blutalkoholspiegel - auf gefährliche kulturelle Praktiken wie Fahren ohne Führerschein, ohne Erfahrung und ohne Anschnallgurt zurück. Auch scheint der übliche offensive Fahrstil das Risiko von Unfällen zu erhöhen ("Epidemiology" 125f). Einige Reservatsstraßen und Straßen, welche die "trockenen" Reservate mit den Bars und Schnapsläden der nahegelegenen Städte (border towns) verbinden, haben durch diese Umstände traurige Berühmtheit erlangt. Joan Weibel-Orlando und Jeanette Grey Eagle berichten vom "Killer Highway" des Pine Ridge Reservats, dessen Ränder von Gedenkkreuzen und Mahntafeln gesäumt sind, und William Simeone erzählt von der "Todesfalle" Alaska Highway (siehe Weibel-Orlando 302 / Dorris 161 / Simeone 42). Immer wieder kehren Indianer von ihren "border runs" oder den Trinkgelagen in entlegenen Winkeln des Reservats nicht zurück. Daß dies so ist, liegt nicht nur an von Native Americans selbst verschuldeten Unfällen, sondern auch an ihrer Verwundbarkeit im berauschten Zustand, die sie zu Opfern fremdverschuldeter Unfälle werden lassen. Hartmut Lutz berichtet sogar von weißen "hit-and-run" Fahrern, die des Nachts Jagd auf betrunkene Indianer machen (siehe Seite 121). Weitere häufig genannte Gesundheitsbeeinträchtigungen sind Erkrankungen der Atemwege (Lungenentzündungen, Bronchitis etc.), generelle Hypothermie sowie Erfrierungen, die Ausdruck ihrer riskanten alkoholgeprägten Verhaltensweise sind. Sie halten sich nämlich im Rahmen der binges im Winter im Freien auf und setzten sich somit ungeschützt der Kälte aus. Auch Verbrennungen und Ertrinken sind nicht selten die Folgen von Trinkgelagen (siehe Levy & Kunitz 137 / Thornton 66 / Barr 202f / Horton 257 / May, "Epidemiology" 125f / Hamer 122 / Baker 195). Ward Churchill gibt die indianische Rate der durch das den Elementen Ausgesetztsein herbeigeführten Tode als das Fünffache der nationalen Rate an (siehe Seite 7).
b.Gesundheitsrisiken durch Alkoholabhängigkeit
Der Begriff Alkoholismus wird häufig sehr unpräzise gebraucht. Man spricht vom "Alkoholismus" in den Reservaten und meint eigentlich den wie auch immer gearteten "Alkoholmißbrauch" oder das "Alkoholproblem". So schreibt etwa das P.M. Magazin wenig differenziert: "In keiner anderen ethnischen Gruppe Nordamerikas gibt es heute so viele Alkoholiker wie unter den Indianern" (Sprado 88). Selbst exzessiver Alkoholgebrauch darf nicht mit Alkoholismus gleichgesetzt werden. Unter Alkoholismus versteht man eine tatsächliche physische und psychische Abhängigkeit, die nach chronischem (täglichem) Konsum verlangt. Sinkt die Alkoholkonzentration im Blut unter das gewohnte Level, treten Entzugserscheinungen (Zittern, Halluzinationen etc.) auf, die erst mit erneuter Alkoholaufnahme wieder gelindert werden. Der regelmäßige Konsum wirkt sich schädigend auf die inneren Organe - besonders aber auf die Leber - aus und kann die Lebenserwartung erheblich schmälern. Die sogenannte Laennec- oder Leberzirrhose ist der wichtigste Indikator für Alkoholismus, obwohl auch Leberzirrhose andere Ursachen als Alkoholmißbrauch haben kann. Der Alkoholiker kann die Anforderungen der Gesellschaft meist nicht mehr erfüllen und lebt und konsumiert isoliert (siehe Wax 152f / May, "Epidemiology" 122f / Beauvais 254).
Es ist eine häufig geäußerte Vermutung, daß der indianische binge style nicht in der Kategorie "Alkoholismus" im herkömmlichen Sinne anzusiedeln ist (siehe Levy & Kunitz 2 / 137 / 148 / 150ff / 157 / 173 / 193 / Brody 218 / Hamer 119 / Hamer & Steinbring 292 / Van Stone 39 / Lemert 66 / Steinbring 94 / Wax 152 / Mail & MacDonald 17 / Griffith 53 / Baker 195). Daraus folgt, daß die Mehrheit indianischer Alkoholkonsumenten nicht den Alkoholikern zuzuordnen ist.59 Einige Tatsachen sprechen für diesen Verdacht: Zum einen sind die binges für mehrere Tage und sogar Wochen der Abstinenz unterbrochen, in denen eine weitestgehende Normalität der Lebensumstände eintritt. Zum anderen ist binge drinking eine Gruppenerfahrung. Trinken ist nicht mit Schuldgefühlen oder sozialer Ächtung und Ausgrenzung behaftet. Niemand ist gezwungen, heimlich und alleine zu konsumieren (siehe Horton 247 / 249 / 257 / Hamer 114 / 148 / Hamer & Steinbring 292 / Brody 218ff / Dorris 89 / 92ff / Van Stone 34 / Lemert 52 / 64 / 66 / Kunitz 155). Die meisten brechen den Konsum auch nach Erreichen einer gewissen Reife vollkommen ab - und dies mit relativer Leichtigkeit, auch wenn sie vorher zu den exzessiven Trinkern zählten und von Laien, Medizinern und sich selbst mit dem Etikett "Alkoholiker" versehen wurden. So läßt es sich erklären, daß sich die Mehrheit der über 45-Jährigen in Abstinenz übt. Falls Leberzirrhose sich überhaupt bereits in Ansätzen entwickelt hat, so ist sie zumindest noch nicht irreparabel (siehe May, "Epidemiology" 127f / Bachman 51 / Levy & Kunitz 148 / 152 / 185 / 192 / Kunitz 154f / Lamarine 144 / Griffith 56 / Dorris 94 / Manson 124). Was den bloßen Anschein von Alkoholismus erhöht, ist, daß indianische Alkoholkonsumenten oft unter den für die Trunksucht so typischen Entzugserscheinungen leiden. Dies, so wird behauptet, sei aber weniger ein Anzeichen für chronischen Konsum als vielmehr dafür, daß Indianer halluzinatorische Erfahrungen generell schätzen und daß es für sie häufig keine "tapering off"-Phase des langsam abklingenden Konsums gibt. Die Alkoholaufnahme wird abrupt beendet, wenn die Vorräte aufgebraucht sind, wenn man bewußtlos wird oder sich auf die Flucht vor gesetzlicher Kontrolle begeben muß (siehe Levy & Kunitz 157ff).
Nach diesem Muster, das besagt, daß binge drinking klar von Alkoholismus zu trennen ist, ergeben sich Risiken nur für Indianer, denen selbst der soziale und periodische Konsum versagt bleibt. Zu dieser Gruppe gehören die Hopi, deren Stammeskodex öffentliches Trinken untersagt. Sie ziehen sich zum Zwecke der Intoxikation konsequenterweise in den privaten Bereich zurück, um gesellschaftlicher Stigmatisierung zu entgehen (siehe Mail & MacDonald 13 / Levy & Kunitz 100 / 180 / Kunitz 154ff).60 Dasselbe gilt für Indianer in Führungspositionen wie Häuptlinge oder Medizinmänner, von denen man eine Vorbildfunktion erwartet, die sie nicht immer auszufüllen vermögen (siehe Hamer & Steinbring 307 / Lemert 67f). Öffentlichem Alkoholkonsum haftet im Fall von Frauen immer noch der Ruf der sexuellen Freizügigkeit an. Sie zählen damit auch zu den besonders gefährdeten Gruppen, die Alkohol nur isoliert und heimlich aufnehmen (siehe Hamer & Steinbring 307 / Lemert 67f / Dorris 90 / 175 / Mail & MacDonald 13).61
Joseph Westermeyer jedoch wehrt sich gegen die Annahme, unter Indianern sei die Ausbeute an wahren Alkoholikern gering: "[S]ome Indian people do indeed become alcoholics" (115). Und öffentliche Institutionen und Statistiken scheinen ihn in seiner Behauptung zu bestätigen. Der Indian Health Service bezeichnet Alkoholismus gegenwärtig als das "Gesundheitsproblem Nummer 1" unter Native Americans (siehe Levy & Kunitz 2 / Baker 194 / Young 65 / Bachman 51). Sterberaten für Leberzirrhose übertreffen die der Gesamtbevölkerung um das 2,2- bis Sechsfache.62 Alkoholabhängigkeit an sich (Zirrhose miteingeschlossen) ist viereinhalb- bis sechsmal so häufig die Todesursache wie in der gesamten Nation.63 So erschreckend diese Zahlen auch klingen mögen, im Kontext der Gesamtbevölkerung stellen sie - dank einer indianischen Bevölkerungszahl von nur etwa eineinhalb Millionen - eine lediglich geringfügige Belastung für das Gesundheitswesen dar (siehe Griffith 53).64
c.Selbstmord
Auch im Falle von Selbstmorden sprechen die Zahlen gegen die indianische Bevölkerung. Die Selbstmordrate soll das 1,2- bis 2,3-fache der Rate der Gesamtbevölkerung betragen, und 75 bis 80 Prozent aller Selbstmorde sollen unter Alkoholeinfluß vollzogen werden.65 Noch beunruhigender ist die Tatsache, daß Selbstmorde unter Indianern nicht stagnieren, sondern sogar scheinbar stark zunehmen (siehe Mail & MacDonald 3 / 10).66 Besonders betroffen sind indianische Jugendliche, die im Gegensatz in der Durchschnittsbevölkerung die am wenigsten gefährdete Gruppe darstellen. Mit voranschreitendem Alter nimmt das Selbstmordrisiko unter Native Americans deutlich ab. Indianer männlichen Geschlechts stellen die Mehrheit der erfolgreich vollzogenen Selbstmorde, Indianer weiblichen Geschlechts die Mehrheit der nicht abgeschlossenen Versuche (siehe Mail & MacDonald 7 / Lamarine 146).
Der Einfluß von Alkohol auf die Selbstmordrate ist allerdings, auch wenn Gerd Laux im medizinischen Lehrbuch Psychiatrie dem Alkoholkonsum eine selbstzerstörerische Komponente zuschreibt (siehe Seite 283), weniger einsehbar als sein Einfluß auf Unfall-, Alkoholismus- und sogar Mordraten.67 Dennoch ist die Selbstmordrate eine der am häufigsten zitierten Statistiken zur Bestätigung des Alkoholproblems unter Indianern. Dabei kommt es auch zu den bereits in der Einleitung erwähnten Verzerrungen. Selbstmord scheint sich in sogenannten Clustern auszubreiten, ist also quasi infektiös. Er wütet so über einen kurzen Zeitraum in einzelnen Reservaten, läßt das Gros der Reservate jedoch unbeeindruckt. Gibt man die Selbstmordrate unter Indianern nun in absoluten Zahlen an, ohne von Stamm zu Stamm Unterscheidungen zu treffen, erscheint das Problem größer, als es auf die gesamte indianische Bevölkerung bezogen tatsächlich ist. Solche statistischen Verzerrungen sowie die Medien, die dem Selbstmordphänomen unter Indianern große Aufmerksamkeit zukommen lassen, leisten dann einen Beitrag zur Herausbildung des "suicidal Indian"-Stereotyps. Dabei wird die relativ geringe absolute Anzahl von Selbstmorden, die 1971 erstmals 100 überschritt und damit gegenüber den 20.000 Selbstmorden der Gesamtbevölkerung im selben Zeitraum stark verblaßte, gerne übersehen (siehe Mail & MacDonald 3ff).
d.Mord
"Since the last of the Indian Wars about the turn of the century, the Indians have been thought of as a peaceful [...] people", wundert sich Stewart ob der gegenwärtigen Kriminalstatistiken (zitiert in Mail & MacDonald 10). Selten enden Handgreiflichkeiten im Rahmen der Verhaltenssequenz mit dem Tod eines der Beteiligten, aber manchmal ist ein Mord eben doch die Folge einer Auseinandersetzung. Diese Ausnahmen reichen, um die Mordrate der Gesamtbevölkerung um das Eineinhalb- bis Dreifache zu übertreffen. Man nimmt auch an, daß sogar noch mehr Morde als Selbstmorde auf Alkohol zurückzuführen sind (90%).68 In Interviews mit 30 in Gefängnissen des mittleren Westens einsitzenden indianischen Mördern in den Jahren 1988 und 1989 konnte Ronet Bachman sogar einen Zusammenhang von 97% feststellen (siehe Seiten 30ff). Dafür stieg die Gesamtzahl der Tötungen längst nicht in dem Maße an wie die der Selbsttötungen (siehe Mail & MacDonald 10).69 Angesichts der rasch wachsenden indianischen Bevölkerung geben die Statistiken allerdings doch Anlaß zur Besorgnis. Auch die relative Jugend der indianischen Ethnie beunruhigt, wenn man die Tatsache betrachtet, daß indianische Mörder fast 20 Jahre jünger sind als der nationale Durchschnittsmörder (siehe Mail & MacDonald 10).
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