Deutsch-Amerikanischer Almanach

Nina Gartz
Indianer und Alkoholmißbrauch

4.Recreational Drinking

Die Definition dieser Theorie basiert auf Frances Fergusons Unterscheidung zwischen anxiety drinkers und recreational drinkers (siehe May, "Epidemiology" 127f / Beauvais 254f / Levy & Kunitz 145 / 193). Levy und Kunitz behaupten, daß die Mehrheit der jungen, Alkohol konsumierenden Männer letzterer Gruppe angehören. Getrunken wird demnach aus Spaß an der Freude - ähnlich wie bei den berüchtigten Trinkritualen der College-Verbindungen. "In a fundamental sense, there is no more need to explain the use of alcohol than there is to explain the prevalence of sexual relationships, for the simple fact is that both are gratifying and pleasurable" (Wax 152f).36 Nancy Oestreich Lurie ist der Ansicht, daß Trinken als geregelte Freizeitbeschäftigung der Gesundheit wohl nicht abträglicher ist als Karate, Bergsteigen oder Pilzesuchen. "This may not be the non-Indians' idea of good, clean fun but on close analysis it can be seen to be carefully managed without real personal or social harm" (130f / 143).

Nicht ganz so positiv sehen andere Befürworter dieser Theorie die Lage. Trinken als Freizeitbeschäftigung deutet auf einen eklatanten Mangel an Alternativen hin. Die "boredom rule" gilt (Marshall 454). Es sind kaum Kinos, Restaurants und Cafés vorhanden, die andere Formen der Unterhaltung bieten könnten oder - wie Leonard Peltier sich ausdrückt - "[There's] nothing going on and nowhere to go" (zitiert in Matthiessen 426). So suchen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen ihre "Kicks" und "Action" im Rausch. Weiße übersehen dieses Defizit an Alternativen oft und äußern Bewunderung über einen vermeintlich idyllischen Lebensstil, "a kind of bacchanalian ne'er-do-well" oder "a haven of libidinous gratification and reckless spontaneity" (Hamer 122 / Honigmann, "Perspectives" 270). Es wird angenommen, daß Indianer - von allen Zwängen der zivilisierten Gesellschaft gelöst - ihren Gelüsten nach Alkohol freien Lauf lassen können.

5.Medizinische und ernährungstechnische Nutzung

In Gegenden, in denen Wasser knapp oder kontaminiert war, bot Alkohol - wie das aus der Agave gewonnene Pulque der Azteken mit 88 Prozent Wasseranteil sowie Vitaminen und Zucker - eine vergleichsweise sichere Flüssigkeits- und Nahrungsquelle (siehe Driver 109).37 Und obwohl Horton zu bedenken gibt, daß Alkohol nur geringen medizinischen Nutzen hat (siehe Seite 246), fand selbiger - wenigstens in der Vergangenheit - Verwendung als Allheilmittel. Indianer in Mexiko gebrauchten Alkohol zur Behandlung von Nervenleiden; in der Subarktis stellte man mit seiner Hilfe ein Tonikum zur Stärkung her (siehe Vogel, Medicine 170 / 361). Die Saulteaux gar sahen in Alkohol "the most efficacious medicine of all to cure every disease" (Pelzhändler Cameron zitiert in Hamer & Steinbring 20). Noch bis heute glauben die Potawatomi an die therapeutischen Qualitäten des Alkohol. Ihre Schamanen nutzen ihn als Heilmittel gegen Blutvergiftung (siehe Hamer 109f). Dabei sind die medizinischen Wirkungen meist in den Bereich der Magie entrückt. Schließlich nannten die Indianer das "medicine water" auch "magic water" (minnewaken) (siehe Stratton 84 / Sprado 88 / Dorris 82f).

6.Wertschätzung visionärer Erfahrungen

Auch die erste ausführlich dokumentierte Begegnung der Indianer mit Alkohol spiegelte Magie wieder: Der britische Expeditionsleiter Henry Hudson landete im Jahr 1609 im Auftrag der Dutch East India Company an der Ostküste Nordamerikas. Dort traf er auf den Stamm der Delaware. Er lud einige von ihnen an Bord seines Schiffes ein und bot ihnen ein alkoholisches Getränk "of knockout caliber" an. Die Indianer sträubten sich gegen das Angebot, aber da sie es selbst als unhöflich empfanden, ein Geschenk abzulehnen, opferte sich ein besonders wagemutiger Krieger. Er trank, wurde besinnungslos und fiel zu Boden. Als er wieder zu sich kam, berichtete er von einer Reise in eine andere, spirituelle Existenz. Nun verlangten alle Indianer an Bord nach Alkohol, um diese Erfahrung nachvollziehen zu können. Es wird sogar behauptet, daß das heutige Manhattan dieser Begebenheit seinen Namen verdankt. Manahachtanienk soll der - von dem Missionar und Ethnohistoriker John Heckewelder im 19. Jahrhundert niedergeschriebenen - Legende nach für "the island where we all became intoxicated" stehen. Allerdings geht man heute davon aus, daß Manhattan weit weniger spektakulär lediglich "island of the hills" bedeutet. Auch sonst wird der Wahrheitsgehalt der Geschichte angezweifelt. Dennoch verdeutlicht der Vorfall, der sich wohl, wenn auch nicht exakt so wie oben beschrieben, dann doch zumindest so ähnlich abgespielt hat, die Nähe des alkoholischen Rausches zu transzendentalen Wahrnehmungen, wie sie die Indianer bis in die Gegenwart hinein schätzen (siehe Wissler 268 / Debo 43 / Barr 5f / Unrau 12).

In früheren Zeiten führten körperliche Grenzerfahrungen wie extremer Hunger und Durst, die durch strenges Fasten herbeigeführt wurden, zu Trance oder Ekstase. Heute bedarf es solcher Anstrengungen nicht mehr. Alkohol erlaubt "instant visions", ist ein "short cut" auf der Suche nach Träumen und Visionen (vision / dream quest) und ersetzt somit die traditionelleren Methoden oder bietet wenigstens eine bequeme Alternative, falls es an Zeit und Kraft mangelt (siehe Lurie 135 / Farb 130 / Dailey 126 / Hamer & Steinbring 23). Hamer beschreibt, wie Alkohol bei den Potawatomi im Rahmen der guardian spirit quest eingesetzt wird. Der guardian spirit ist eine Art übernatürlicher Schutzpatron, der seinem Schützling in harten Zeiten zur Seite steht und ihm besondere Kräfte verleiht (siehe Seiten 127ff). Der Zustand der Trunkenheit ist also ein geschätzter, ja sogar ein sakraler Zustand. Es gehört zu den Pflichten gläubiger Indianer, den Forderungen des Great Man, die Alkoholkonsum mit einschließen, bedingungslos Folge zu leisten (siehe Martin 119 / Horton 260).38

Bereits vor dem Kontakt mit den Europäern hatte Intoxikation bei denjenigen Stämmen, die über Alkohol verfügten, einen überwiegend heiligen Status inne. Nur wenige Gruppen nutzten Alkohol in einem ausschließlich säkularen Kontext.39 Das Trinken fand stattdessen eingebettet in religiöse Riten und Zeremonien statt. Man war saisonal und zeitlich gebunden, da sich das jeweilige Getränk nur in einer bestimmten Jahreszeit - nämlich der der Ernte der jeweiligen Grundlage- herstellen ließ und seine berauschende Wirkung relativ rasch wieder verlor (siehe Horton 240). Es tranken sowohl religiöse Mittler wie Schamanen und Priester als auch das einfache Volk von religiösen Laien. Am besten dokumentiert ist das Beispiel der Papago. Wie Ruth Underhill, die sich im Jahr 1938 intensiv mit den Papago auseinandersetzte, bestätigt, war bei dieser Stammesgruppe exzessiver Alkoholkonsum ein wichtiger Bestandteil der Regenzeremonie. Indem der Zeremonien-Teilnehmer seinen eigenen Durst löschte, nahm er den herbeigesehnten Regen, der den Durst der Erde löschen würde, vorweg. Zu den Pflichten gehörte es dabei, sich zu übergeben, denn Erbrechen symbolisierte den bald eintreffenden Niederschlag. "Look! He's throwing up clouds", so wurde auch noch in den 1930er Jahren Erbrechen im Rahmen des Rituals kommentiert. Der Text eines die Zeremonie begleitenden Liedes lautet: "Drink, friend! Get beautifully drunk!--Hither bring the wind and the clouds". Horton weist darauf hin, daß das Wort "drunk" in diesem Kontext den Status eines heiligen Wortes einnimmt (Underhill 246ff; siehe auch Horton 260 / Driver 109ff / Wax 152).40 Die Nachbarn der Papago, die Pima, nutzten Alkohol auch rituell. Bei ihnen war der Schwerpunkt der Zeremonie allerdings nicht das Herbeiführen von Regen, sondern das Erlangen von Wagemut und Energie für den Kriegspfad (siehe Underhill 251).

7.Verinnerlichung und Wiedergabe eines Stereotyps: Identität und Protest

Es ist ein häufig beobachtetes Phänomen, daß, wenn indianische Kinder "Cowboy und Indianer" spielen, die Rolle des Cowboys hart umkämpft ist.41 Und die Vorliebe indianischer Frauen für weiße Männer ist auch ein Topos (siehe Brody 233 / 245). Das geringe Selbstwertgefühl und der Minderwertigkeitskomplex der Indianer gegenüber Weißen wurden bereits an anderer Stelle erwähnt. Nicht selten führt dieses Empfinden der eigenen Unzulänglichkeit gar zu Selbsthaß und nach innen gekehrter Aggression. Verursacht wird dieses negative Selbstbild durch eine Internalisierung negativer Stereotype wie das des "drunken Indian". Die labeling theory und die social learning theory of deviance gehen davon aus, daß ein Stereotyp, wird es nur oft genug wiederholt, seine Wirkung zeigt: Das Heterostereotyp wird zum Autostereotyp, die secondary deviance (d.h. die zugeschriebene Abweichung von der Norm) wird zur primary deviance (d.h. der angenommenen Abweichung von der Norm) (siehe Lutz 228f / Levy & Kunitz 12 / 191ff / Bachman 55). Es kommt zur Aktualisierung, zur Wiedergabe des Stereotyps. Eine self-fulfilling prophecy wird in Gang gesetzt.

Lurie stimmt zwar in den wesentlichen Punkten mit dem letzten Absatz überein, jedoch sind ihre Folgerungen weitaus optimistischer. Sie geht davon aus, daß die Verinnerlichung des Stereotyps ein bewußt gewählter Prozeß ist. Damit sei kein Eingestehen einer etwaigen Unterlegenheit verbunden: "Quite the contrary". Trinken wird als Beweis ethnischer Zugehörigkeit gewertet, "when other means of asserting Indianness are not readily available [or] when all else fails to maintain the Indian-white boundary". So wird Alkoholkonsum zum Mitgliedsausweis oder zur Eintrittskarte in die Minderheit. Nach außen hin wird Solidarität demonstriert. "[L]ike it or not, I am Indian", lautet die Botschaft (130f / 138). Man grenzt sich klar von der Mainstream-Gesellschaft ab. Und nicht nur das: Man opponiert auch gegen die Dominanz der weißen Gesellschaft. Lurie nennt den indianischen Alkoholmißbrauch "The World's Oldest On-Going Protest Demonstration"; Roland Lamarine spricht von einer Form passiv-aggressiven Verhaltens (150). Protestiert wird zum Beispiel gegen die Idee des Aussterbens der indianischen Rasse. Binge drinking vollzieht sich öffentlich, wie in Gallup, wo weggeworfene Bierdosen am Straßenrand und betrunkene Indianer vor den Bars zum Stadtbild gehören und weißen Touristen einen unübersehbaren Beweis ihrer fortdauernden Existenz liefern. Protestiert wird auch gegen diskriminierende Gesetzgebungen. Man setzt sich absichtlich über die Prohibition in den Reservaten hinweg. Die Aufmerksamkeit der weißen Behörden ist einem bei solchen Gesetzesübertretungen sicher (siehe Mail & MacDonald 28 / 37f / Lamarine 150 / Hamer & Steinbring 312).

Lurie vermutet indes bei abstinenten Indianern ein mangelndes Engagement für die eigene Ethnie (siehe Seite 134). Mangelndes Engagement ist ein häufig geäußertes Verdachtsmoment auch in den peer groups. Der Druck, den die Gruppe auf einzelne enthaltsame Mitglieder ausübt, ist enorm. "You think you're too good to drink with us", "I didn't know you're such a wasichu (White person)" und "So you're not a Lakota any more", so lauten die Vorwürfe, mit denen man sich im Fall der Verweigerung konfrontiert sieht (zitiert in Dorris 92). Anhaltende Abstinenz zieht soziale Ächtung nach sich. Voller Einsatz bei einem Trinkgelage kann auf der anderen Seite die Kreditwürdigkeit in der Gruppe wiederherstellen.

Dieser Druck birgt natürlich die Gefahr, daß alternative, weniger schädliche Wege, das Engagement für die ethnische Minderheit unter Beweis zu stellen (z.B. politischer Einsatz), vollkommen vernachlässigt werden. Alkoholkonsum kann die Probleme kaum lösen, sondern vergrößert sie wahrscheinlich noch. "If you swallow enough alcohol it can hurt you, and those around you, no matter what the motive is for drinking" (Mail & MacDonald 38). Und nach einer Weile wird der Alkoholkonsum zum reinen Selbstzweck. Aber Lurie sieht einen Hoffnungsschimmer. Sie zählt die zahlreichen spektakulären Protestaktionen des American Indian Movement (AIM) im Zuge der Bürgerrechtsbewegung in den 1970er Jahren auf, die hauptsächlich ohne Alkohol und Gewalt auskamen (siehe Seite 144).42 In Peter Matthiessens Buch In the Spirit of Crazy Horse kommen Dennis Banks, Russel Means, Leonard Peltier, Dino Butler sowie weitere Führungspersönlichkeiten innerhalb AIMs zu Wort, und sie äußern sich über den zunächst desolaten Zustand der Bewegung aufgrund des gängigen Alkoholmißbrauchs: "[I]t was all drugs and alcohol, which were [...] an impediment to an effective organization, and also something that compromised our public position" (Dennis Banks zitiert auf den Seiten 84f). Ihnen wurde klar, daß, um Respekt zu erlangen und politische Erfolge zu erzielen, sie ihr Image radikal verändern mußten. Dies schloß den Verzicht auf Alkoholkonsum, der ihr Ansehen in den vorangegangenen Jahren in der Öffentlichkeit schwer kompromittiert hatte, mit ein. Im Jahr 1993 konnte eine gewisse Loretta Flores auf die Frage "What is 'being AIM'?" ohne zu zögern mit "AIM is to [...] avoid alcohol" antworten (zitiert in Nagel 176).43 Folgender Auszug aus einem Gerichtsprotokol zeigt auf, wie man versuchte, AIM-Mitglieder durch ein Heraufbeschwören des Bildes vom betrunkenen, anarchistischen Aktivisten zu diskreditieren:

Q: There's been a liquor problem on the reservation for many years, hasn't there?
A: Oh yes. That's the way the white man brought us up.
Q: And you have some first-hand experience of that yourself, haven't you?
A: Oh yes.
Q: And you have drunk on the reservation, haven't you?
A: Oh yes.
Q: And you have had possession of liquor on the reservation?
A: Oh yes. (zitiert in Matthiessen 91)44

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