Deutsch-Amerikanischer Almanach

Gert Raeithel
Zur Devolution des amerikanischen Strafvollzugs

Prison Studies sind Teil der Amerikanistik geworden. Angela Davis ist eine der führenden Forscherpersönlichkeiten auf diesem Sektor. Sie kann, wie andere politische Gefangene, aus eigener Erfahrung schöpfen. Wer sich auf dieses Forschungsfeld begibt, muss sich zuerst einmal gegen die – entwicklungspsychologisch gesehen – arretierende Funktion von Hollywood wehren. In einem Film wie Brubaker (1974) ist nur die erste halbe Stunde veristisch angelegt, danach setzt das Märchenerzählen für infantil Gebliebene wieder ein. Die Forschungslage ist nicht ideal. Die Haftanstalten geben keine Jahresberichte mehr heraus und geizen mit Informationen. Trotzdem weiß man aufgrund der Hartnäckigkeit und dem Engagement amerikanischer Autoren genug, um ein einigermaßen wahrheitsgetreues Bild der jetzigen Situation zeichnen zu können.

Der amerikanische Strafvollzug befindet sich in einem Stadium der Devolution. Die Haftanstalten sind binnen einer Generation inhumaner und brutaler geworden. Es herrschen für einen Rechtsstaat eigentlich unhaltbare Zustände. Der Gefängnisaufenthalt ist kontraproduktiv. Die Inhaftierung verfolgt den Zweck einer Besserung oder Resozialisierung nicht mehr, gibt nicht einmal vor, dies zu tun. Hauptzweck ist die Strafe im Sinn des Wegsperrens, des Aus-dem-Verkehr-Ziehens. In Security Housing Units, sogenannte Supermax-Einheiten, werden Häftlinge so gut wie völlig isoliert gehalten, strenger als im Auburn-System vergangener Tage. Minderjährige finden sich mit Erwachsenen in einer Zelle wieder. In Alabama zertrümmern Kettensträflinge Felsbrocken mit Vorschlaghämmern. Jeder Tourist kann am Straßenrand chain gangs beobachten, die in weiße Drilliche gekleidet und aneinander gekettet den Fahrbahnrand von Unrat säubern.

Fußketten werden auch für weibliche Häftlinge angeordnet. Boot camps muten wie eine Parodie auf einen humanen Strafvollzug an. Gefängnisbibliotheken wurden abgeschafft, damit Häftlinge nicht mehr an juristische Literatur heran kommen. Einen Häftling wie Caryl Chessman, der in den 1950er Jahren in ein Dutzend Fremdsprachen übersetzte Bücher schrieb, wird es nicht mehr geben. Nicht mehr geben wird es einen Nathan Leopold, der in Haft ein Buch über die Gefahr des Rückfälligwerdens verfasste und nach seiner Begnadigung auf einer Lepra-Station arbeitete. Gestalten wie Malcolm X, die im Gefängnis ihren politischen Horizont erweiterten, wird man bei der jetzigen Systemverschlechterung kaum noch erwarten dürfen.

Der von beiden Parteien getragene Violent Crime Control and Law Enforcement Act (1994) stellte Bundesmittel in Milliardenhöhe für den Gefängnisbau bereit. Der damals mächtigste Republikaner forderte „real prisons“, Mindeststrafen und einen Verzicht auf vorzeitige Entlassung. Obligatorische Mindeststrafen brachten zahlreichen Bürgern langjährige Haftstrafen ein, zum Beispiel Frauen, die unter dem Druck des Ehemannes illegale Drogen befördert hatten. Im „lock 'em up fever“ der 1990er Jahre gab der Staat Kalifornien für den Strafvollzug – euphemistisch correction gegannt – so viel Geld aus wie für die höheren Bildungsanstalten. Mississippi plante, die gestreifte Kleidung und eventuell die Rute (cane) wieder einzuführen. Georgia übertraf das verbreitete Three-Strikes-Law mit einem Two-Strikes-Law und nahm bei der Häftlingsquote bald die Spitzenposition ein, gefolgt von Texas. Die Häftlingsquote der gesamten USA beträgt mit 645 pro 100.000 Einwohnern das siebenfache der Quote europäischer Länder. Die Rechtsprechung ist punitiv ausgelegt und entgegen weit verbreiteter Ansicht nicht zu nachgiebig.

Die Gefängnisse sind überfüllt, weil Drogenbesitz und Drogenhandel zugenommen haben und schärfer geahndet werden; weil es in einigen Staaten keine Verkürzung der Haftzeit wegen guter Führung mehr gibt; weil der Ermessensspielraum der Richter bei der Haftdauer eingeschränkt wurde. Die Gerichte sind überlastet, weil Angeklagte wegen des eisernen Three-Strikes-Law weniger Bereitschaft zeigen, „schuldig“ zu plädieren um sich damit eine kürzere Haftdauer einzuhandeln. Die Gesellschaft hat sich entschlossen, durch selective incapacitation den harten Kern der Kriminellen hinter Schloss und Riegel zu bringen und hat dabei zahlreiche Bagatelltäter mitgerissen. Preventive detention verlangt, Verdächtige ohne Kaution in Untersuchungshaft zu halten bzw. die Kaution so hoch anzusetzen, dass sie nicht bezahlt werden kann.

Die amerikanische Häftlingsquote hat sich seit den 1970er Jahren vervierfacht. Zur Zeit sind rund zwei Millionen Amerikaner eingesperrt. Pro Woche kommen 1000 neue Häftlinge hinzu, das entspricht der Kapazität von zwei Gefängnissen. Texas hat unter der Gouverneurschaft von George Walker Bush jede Woche ein neues Gefängnis eröffnet. Die Befürworter sehen in der selective incapacitation den Hauptgrund für den Rückgang der Verbrechensrate. James Q. Wilson, der führende Experte unter den Hardlinern meinte: „Putting people in prison is the single most important thing we’ve done“ (zit. nach USN&WR 25.5.1998). Gegner dieser Strategie machen für den Rückgang eher die demographische Entwicklung namhaft. Eine Korrelation zwischen hoher Häftlingsquote und sinkender Verbrechensrate ist nicht zwingend nachweisbar. In einigen Staaten stimmt das Kalkül, in Utah zum Beispiel nicht. Dort stiegen Häftlingsquote und Verbrechensrate gleichläufig an.

Ein Prozent aller weißen und sieben Prozent aller schwarzen Amerikaner sind eingesperrt. Seit 1996 stellen Afro-Amerikaner auch in absoluten Zahlen die Mehrheit der Gefängnisinsassen -–bei einem Anteil an der Gesamtbevölkerung von 12 Prozent.

Nixon drückte wahrscheinlich die volonté generale aus, als er zu seinem Berater sagte: „Das wirkliche Problem beim Krieg gegen das Verbrechen sind die Schwarzen, wir müssen bei einer wirksamen Verbrechensbekämpfung darauf achten, ohne aber diesen Anschein zu erwecken.“ Konservative Experten meinen, die Häftlingsquote der Schwarzen sei zu hoch, weil ihre Verbrechensquote so hoch ist. Die Sprecher der afro-amerikanischen Community halten dagegen, ein junger straffällig gewordener Schwarzer werde sofort eingebuchtet, während dem weißen Sprössling aus gutem Hause ein Autoritätskonflikt mit guten rehabilitativen Chancen eingeräumt wird.

Die Rate der Frauen, und besonders die der schwarzamerikanischen Frauen, ist ebenfalls deutlich gestiegen. Gewalttaten, Eigentumsdelikte und die verschärfte Ahndung von Drogenbesitz sind die wichtigsten Haftgründe. Die 150 000 weiblichen Häftlinge machen trotzdem erst 7 ½ Prozent der gesamten Gefängnispopulation aus. Nachdem hier lange Zeit ein Forschungsdefizit bestand, weiß man über dieses Gebiet heute mehr. Frauen bewältigen den Gefängnisalltag auf andere Weise als Männer. Sie bauen sich hinter Gittern eine Art Familienstruktur auf mit relativ fest verteilten Rollen. Zu den spezifischen Problemen zählen die Schuldgefühle gegenüber Kindern oder unerwünschte Schwangerschaften zum Teil hervorgerufen durch gewaltsame Übergriffe der Wärter.

Die Kosten für einen Häftling liegen bei mehr als 25 000 Dollar pro Jahr, bei weiblichen Insassen höher. In Hamilton (Alabama) und in anderen geriatrischen Haftanstalten können die Kosten wegen der medizinischen Versorgung bis auf 60 000 Dollar anwachsen. In Texas, wo kaum Entlassung auf Bewährung in Frage kommt, sitzen besonders viele Greise ein. Man hat deshalb auch vor einem „greying of American prisoners“ gesprochen.

Die öffentliche Hand ist interessiert daran, die hohen Kosten für den Strafvollzug zu reduzieren. Die Wahlplattform der Republikanischen Partei von 1996 sprach sich für eine Privatisierung von Gefängnissen aus, die schon längst im Gange war. Gegen den Widerstand der American Civil Liberties Union (ACLU) oder des Gewerkschaftsverbandes (AFL/CI) werden mehr und mehr Haftanstalten privaten Konzernen überlassen. Die Kommunen stimmen für diesen Wechsel und für Gefängnisneubauten, weil sie sich davon eine Belebung der lokalen Wirtschaft versprechen. In Imperial City (Kalifornien), ist die Gefängnisverwaltung bereits der größte Arbeitgeber am Ort. Anders als früher wird die Errichtung von Haftanstalten von den Einwohnern begrüßt. Das örtliche Gefängnis wird in die Folklore herein genommen. In einer Kleinstadt in Illinois wird schon ein Supermax Burger angeboten. Weil Haftanstalten eine neue Wachstumsindustrie sind, stehen die Aktien der Corrections Corporation of America oder der Wackenhut Corrections Corporation gut. Es gilt das Hilton-Prinzip: jedes Bett muss belegt sein. Man braucht Häftlinge, um den Laden am Laufen zu halten. Je höher die Belegdichte, desto höher die Dividende. Die Gewinnmaximierung geht auf Kosten der Resozialisierung. Ob private Firmen billiger wirtschaften als die öffentliche Hand, ist bisher nicht erwiesen.

Es ist keine Frage, dass die Gefängnisverwaltungen mit Forderungen von Häftlingen konfrontiert werden, die kaum auf eine sinnvolle Weise erfüllt werden können. In Kalifornien verlangte ein indianischer Kindermörder auf der Grundlage der freien Religionsausübung ein Schwitzhüttenritual. Das Gefängnispersonal ist schier unerträglichen Belastungen ausgesetzt. In manchen Anstalten müssen Wärter Schutzbrillen tragen, weil sie von Häftlingen durch die Gitterstäbe hindurch mit Exkrementen beworfen werden. Wahr ist aber auch, dass sich die Aufseher zahlreiche Übergriffe zuschulden kommen lassen: die Vergewaltigung weiblicher Gefangener; die Veranstaltung von menschlichen Hahnenkämpfen unter den Häftlingen, auf deren Ausgang gewettet wird; die Benutzung psychopathischer Häftlinge zur Bändigung schwieriger Zellengenossen.

Innerhalb der Haftanstalten haben sich separate Hierarchien gebildet, die an der Anstaltsleitung vorbei agieren: die Mexican Mafia der Chicanos, die Aryan Brotherhood weißer Suprematisten oder die Black Guerilla Family der Afro-Amerikaner. Neueingewiesene werden von Alteingesessenen mit Gewalt gefügig gemacht. Es werden bestimmte Sexrollen verteilt, Mithäftlinge zum sexuellen Missbrauch an andere vermietet, punks als Leibeigene mächtigen Insassen überantwortet. Es sind dies jeder Beschreibung spottende, eines modernen Gemeinwesens nicht würdige Zustände, die aber doch jedem einigermaßen informierten Staatsbürger in Freiheit bekannt sind und im Moment jedenfalls als reformresistent angesehen werden. In einer Umfrage bekannten U.S.-Bürger im Vertrauen, sie würden lieber eine Körperstrafe nach islamischem Recht in Kauf nehmen statt ins berüchtigte Chicagoer Cook County Jail eingeliefert zu werden.

Die Politik der zero tolerance birgt das Risiko, dass jeder, der nicht ins neoliberale Kostüm passt, eingesperrt wird. Ein Mann wie Alexander Mitscherlich, einst Gast in einem der berühmten amerikanischen Think Tanks, stünde mit seiner Toleranzlehre heute auf verlorenem Posten. Die Ursachen der Straffälligkeit werden ignoriert, die soziale Entwurzelung von Gesetzesbrechern missachtet. Steckt man die sozialen Verlierer ins Gefängnis, sagte Edward Luttwak, tauchen sie nicht in der Arbeitslosenstatistik auf. Das Gefälle sozialen Unrechts zeigt sich von der Festnahme bis zur Begnadigung. Clinton begnadigte den milliardenschweren Marc Rich. Den ohne Schuldnachweis inhaftierten indianischen Aktivisten Leonard Peltier ließ er weiterhin hinter Gittern verfaulen.

Nulltoleranz hat zur over-incarceration geführt. Gerade bei Rauschgiftdelikten sind Haftstrafen als Lösung ausgereizt. Als Alternativen kämen in Frage: regelmäßige Drogentests, Platzverweise von kritischen Örtlichkeiten, Ausgangssperren, kommunale Dienstleistungen, konstanter Schulbesuch und Beständigkeit am Arbeitsplatz. Es ist erwiesen, dass mit einer besseren Ausbildung das Rückfallrisiko sinkt. Doch die Bereitschaft, soziale Reformen in Angriff zu nehmen, ist momentan gering. Im 19. Jahrhundert fuhren Europäer in die USA, um dort die pönologischen Errungenschaften zu studieren. Heute ist Kanada das Ziel, wo das soziale Gewissen nicht ertaubt und die Betreuung der Gefangenen professioneller ist. Lawrence Friedman, einer der besten Kenner der amerikanischen Justiz, hat die Hoffnung für sein Land anscheinend aufgegeben. Er vergleicht das Justizsystem der USA mit einem löchrigen Gartenschlauch. Erhöht man den Druck, spritzt das Wasser heraus. Schließt man ein Leck, öffnet sich eine anderes. Niemand hat das Sagen, es existiert kein zentrales Nervensystem. Jeder kann die Arbeit des anderen zunichte machen – Parlament, Polizei, Staatsanwalt, Jury, Richter, Parole Board... Der Reformer wendet sich verbittert ab. Nothing works.

Literatur:

amnesty international, USA – Hüter der Menschenrechte?, Bonn 1998

Chessman, Caryl: Cell 2455, Death Row, New York 1955

Estrich, Susan: Getting Away With Murder, Cambridge, Mass., 1998

Friedmann, Lawrence: American Law, New York 1998

Gingrich, Newt: Contract With America, New York 1994

Halliwell, Joseph: Going Up the River – Travels in a Prison Nation, New York 2000

Parenti, Christian: Lockdown America, London 1999

Schulz, William: „Women in Prison“, in: New York Review of Books, 31. Mai 2001, S. 32-3

Steinhäuser, Uta: „Die Privatisierung amerikanischer Gefängnisse und ihre Auswirkungen auf den Strafvollzug“, M.A. Arbeit, LMU, München 2000

Teles Stephen und Kleiman, M.: „Escape from America’s Prison Policy“, www.prospect.org/archives

de Tocqueville, Alexis und de Beaumont, Gustave: Du Systéme pénitentiaire aux États-Unis et de son application en France, Paris 1833

Walker, Samuel: Sense and Nonsense About Crime and Drugs, Belmont 1994

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